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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

unter seine ganz besondere Obhut genommen. Wie Du das ausgehalten hast, begreife ich nicht – ich hätte es jedenfalls nicht gekonnt.“

„Nein, Du wärst zerbrochen unter dieser eisernen Hand,“ sagte Anna ernst. „Ich bin aus stärkerem Stoffe, und vielleicht hat auch diese Erziehung ihr Gutes gehabt; sie stählte mich für das Leben.“

„Ja, Du kannst auch bisweilen hart sein; das hast Du von Gregor gelernt, und am meisten warst Du es von jeher gegen Dich selbst.“

„Bin ich es gegen Dich?“

„Nein, meine Anna! O, so habe ich es nicht gemeint.“ rief das junge Mädchen, die Arme um den Hals der Schwester schlingend, die sie leise an sich zog.

Die beiden Schwestern glichen einander sehr und waren doch unendlich verschieden. Die kleine zierliche Lily reichte der hohen Gestalt der jungen Frau kaum bis zur Schulter; ihre weichen, braunen Flechten hatten dieselbe Farbe und Fülle, aber es fehlte ihnen jener wunderbare schimmernde Goldglanz, ebenso wie den Augen jener große, mächtige Aufschlag fehlte, der Anna’s Blick so schön machte. Lily’s braune Augen blickten schelmisch und kinderfroh in die Welt hinaus, und in ihrem rosigen Gesichtchen stand nichts von Energie und Willenskraft zu lesen. Die ältere Schwester war eine Schönheit, deren siegende Gewalt sich überall kundgab, die jüngere nur eine frische, anmuthige Mädchengestalt, sie glichen einander, wie sich Lilie und Jasmin gleichen.

„Was meinte denn Gregor, als er von dem Verkauf von Rosenberg sprach?“ begann Lily von Neuem. „Willst Du das Gut verkaufen? Ich glaubte, wir würden hier bleiben.“

„Das wäre auch mein Wunsch gewesen, aber es wird nicht möglich sein. Rosenberg erfordert einen herrschaftlichen Haushalt, und wir werden uns einfacher einrichten müssen.“

„Bist Du denn nicht reich?“ fragte das junge Mädchen mit naivem Erstaunen. „Ihr lebtet ja so prächtig in der Residenz.“

„Ich bin Wittwe,“ versetzte Anna ausweichend. „Hertenstein’s reiches Einkommen hörte mit seinem Tode auf, und wenn wir auch keine Armuth zu fürchten haben, so wird sich doch manches in unserem künftigen Leben anders gestalten.“

Lily nahm diese Eröffnung sehr gleichgültig hin. Ihr waren Reichthum und Armuth nach bloße Worte, deren eigentliche Bedeutung sie nie erfahren hatte. Für sie war von jeher gesorgt worden, und wenn ihr das Leben der Schwester, welche sie bisweilen in der Residenz besuchen durfte, wie ein prächtiges Feenmärchen erschien, so gefiel ihr die ungebundene Freiheit, die sie hier in Rosenberg genoß, nicht minder. Ein neuer Wechsel des Aufenthalts versprach ihr nur neues Vergnügen; sie war noch in dem Alter, wo man jede Veränderung willkommen heißt.

„Mir ist es gleich, wohin wir gehen, wenn es nur nicht zu Vetter Gregor ist,“ sagte sie unbestimmt. „Aber wann wirst Du endlich die tiefe Trauer ablegen, Anna? Du bist noch nicht vierundzwanzig Jahre alt und kannst doch nicht zeitlebens in schwarzem Flor und Krepp gehen, weil Du Wittwe bist. Im Sommer ist es ein volles Jahr gewesen, daß Dein Mann starb. Du kannst doch nicht ewig um ihn trauern, und er war auch schon so sehr alt, dreiundsiebenzig Jahre!“

„Man betrauert nicht das Alter, sondern den Verlust; glaubst Du, daß ich Hertenstein nicht lieb gehabt habe?“

„O ja,“ sagte die Kleine. „Man hat auch seinen Großvater lieb, und ich denke mir, so ungefähr von der Art muß Deine Liebe gewesen sein. Mir wenigstens ist der Präsident immer großväterlich erschienen und Dir wahrscheinlich auch – sonst hättest Du an Deinem Hochzeitstage nicht so verzweifelt geweint.“

„An meinem Hochzeitstage?“ fragte die junge Frau betreten. „Du irrst, Lily.“

„O, ich meine nicht vor dem Altar; da warst Du so ruhig und kalt wie ein Marmorbild, aber vorher, als Du Dich allein glaubtest. Der Präsident hatte mich schon am frühen Morgen in Dein Zimmer geschickt, damit ich Dir das prachtvolle Bouquet bringe, das er aus der Residenz hatte kommen lassen. Ich war sehr stolz auf meinen Auftrag und trat ganz leise ein, um Dich bei der Toilette zu überraschen, aber als ich die Thür öffnete, da lag das weiße Atlaskleid nach auf dem Sessel und darüber der Spitzenschleier, und daneben lagen die Brillanten, Du aber, Du lagst auf den Knieen und drücktest den Kopf in die Polster des Sophas und weintest, als ob Dir das Herz brechen sollte. Als ich Dich rief, da fuhrst Du freilich auf und trocknetest Deine Thränen und verbotest mir, darüber zu sprechen. Ich war noch sehr klein damals und sehr dumm, aber so viel wußte ich doch schon, daß man nicht so bitterlich weint, wenn man einen Mann heiraten soll, den man lieb hat. Ich weiß es recht gut, Gregor hat Dich gezwungen, diesen Schritt zu thun, und es hat ihm hernach selbst leid gethan; denn er war geisterbleich, als er Euch traute, und ich habe es ganz deutlich gesehen, daß seine Hand zitterte, als er sie zum Segen auf Dein Haupt legte.“

Das junge Mädchen sprudelte all diese Erinnerungen, die sie mit der scharfen Beobachtungsgabe des Kindes erfaßt und festgehalten hatte, unaufhaltsam hervor und hätte sich wahrscheinlich noch ausführlicher darüber verbreitet, wenn Anna sie jetzt nicht mit voller Entschiedenheit unterbrochen hätte.

„Schweig’ von Dingen, Lily, die Du noch gar nicht beurtheilen kannst. Du warst damals ein zehnjähriges Kind und hast Dir in Deiner kindischen Weise alles tägliche zusammengereimt, was nicht im Mindesten der Wahrheit entspricht. Gregor hat mich nicht gezwungen, und ich hatte mich auch nicht zwingen lassen; er rieth mir nur, wozu ich bereite entschlossen war. Ich habe freiwillig Hertenstein meine Hand gereicht und das nie auch nur einen Augenblick lang bereut. Ich verbiete Dir ein für alle Mal solche thörichten Voraussetzungen.“

Die Worte klangen streng, beinahe hart, und Lily, die ganz und gar nicht an eine derartige Strenge von Seiten der Schwester gewöhnt war und sich tief dadurch beleidigt fühlte, machte Miene zum Weinen, als die Thür von Neuem geöffnet wurde.

Die Dame, die jetzt eintrat, war älter als die beiden Schwestern; sie machte schon im Anfang der Dreißig stehen und war, ohne irgendwie auf Schönheit Anspruch machen zu können, doch eine ansprechende Erscheinung, eine kleine, etwas volle Gestalt, mit dunklen Haaren und lebhaften Augen. Sie trat mit freundlichem Gruße näher.

„Wir sind lange ausgeblieben, gnädige Frau, aber Lily hat Ihnen wohl schon gebeichtet, daß sie allein an der Verspätung schuld war.“

„Nein, ich habe noch nichts erfahren,“ sagte Anna, während ihre junge Schwester sich schmollend abwendete. „Aber ich glaubte, Fräulein Hofer, Sie hätten den Besuch bei Ihren Eltern etwas länger ausgedehnt.“

Fräulein Hofer, die ehemalige Gesellschafterin des Fräulein von Hertenstein, schüttelte den Kopf.

„Nein, wir haben die Försterei rechtzeitig verlassen, aber Fräulein Lily ruhte nicht, bis ich den Wagen vorausschickte und mit ihr den Waldweg einschlug, der bei Felseneck in die Bergstraße mündet. Es ist ein Umweg von einer Stunde.“

„O, ich wollte nur ein einziges Mal einen Blick auf das verwünschte Schloß werfen,“ rief Lily, die bei dem Worte Felseneck all ihr Schmollen vergaß. „Ich habe in den vier Wochen, daß ich hier bin, so viel davon gehört, und wenn auch kein Mensch hineindarf, sehen mußte ich es wenigstens! Es ist ein echtes Zauberschloß, so mächtig und prachtvoll wie in den Märchen, aber es herrscht eine Todtenstille ringsum, als wäre jedes Leben darin erstorben. Natürlich! Drinnen sitzt ja das verzauberte Ungeheuer, das Jedem den Hals umdreht, der unversehens hineingerät.“

„Nein, Lily, das ist Uebertreibung,“ sagte Fräulein Hofer in feierlichem Tone. „Was der Freiherr von Werdenfels auch da oben treiben mag – den Hals hat er noch Keinem umgedreht.“

„Nicht?“ fragte Lily mit offenbarer Enttäuschung. „Nun, ich war darauf gefaßt, wenn wir ihn wirklich zu Gesicht bekommen hätten. Ich erwartete jeden Augenblick, irgend etwas Entsetzliches aus dem dunklen Burgthor auftauchen zu sehen, aber merkwürdiger Weise erschien ein sehr hübscher junger Mann, der mit Flinte und Jagdtasche aus dem Schlosse kam und uns sehr artig grüßte. Wie mag der nur dorthin gerathen sein? Ich glaubte, ganz Felseneck sei nur mit Ungethümen bevölkert, da sein Herr sich ja doch mit Leib und Seele dem Gottseibeiuns verschrieben hat.“

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_076.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)