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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

No. 4.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Der junge Mann war noch immer mit seinen Krankheits- und Reiseplänen beschäftigt, als der Haushofmeister auf der Terrasse erschien. Er kam im Namen seines Herrn, um sich zu erkundigen, ob der junge Baron mit seinen Zimmern zufrieden sei, und ob er noch irgend etwas vermisse oder wünsche.

„O durchaus nicht! Es ist alles ausgezeichnet, vortrefflich!“ sagte Paul, der Mühe hatte, seine üble Laune zu verbergen; ihn ärgerte hier alles, sogar die respectvolle Artigkeit des alten Mannes, der jetzt fortfuhr:

„Der Herr meinte, Sie würden den Blick in die Ebene vorziehen, Herr Baron! Er hat deshalb ausdrücklich diese Zimmer bestimmt.“

„Ich bin meinem Onkel sehr dankbar für seine Fürsorge,“ entgegnete Paul in der festen Absicht, sich dieser Fürsorge sobald wie möglich wieder zu entziehen. Eben deshalb aber fand er es nöthig, einiges Interesse an der Umgegend zu zeigen; er zog deshalb sein Fernglas hervor und fragte nach Diesem und Jenem.

Der Haushofmeister gab in seiner einsilbig höflichen Weise die nöthige Auskunft und nannte die einzelnen Berge und Ortschaften.

Die Aussicht von der Terrasse hatte allerdings nicht jene wilde, düstere Großartigkeit, welche der Blick aus den Zimmern des Freiherrn zeigte, aber großartig war sie immerhin. Dort schaute man nur auf die Schluchten und Schneefelder des Gebirges, hier auf der entgegengesetzten Seite sah man über die Windungen der Bergstraße hinweg den Ausgang des Thales, das sich dort hinten zu einem prachtvollen Halbrund öffnete und endlich von der Ebene begrenzt wurde. Die Felsen traten allmählich zurück, um grünen Vorbergen Platz zu machen, welche von einzelnen Gehöften Weilern und Kirchen belebt wurden. Der Bergstrom floß dort breiter und ruhiger dahin; man konnte seine Windungen weithin verfolgen, bis sie sich in der Ferne verloren. Diese Ferne freilich verschwand heute im Nebel, aber es war doch so klar geworden, daß man auf einige Stunden Entfernung alles deutlich zu unterscheiden vermochte.

„Das ist Werdenfels,“ sagte der Haushofmeister, auf eine größere Ortschaft deutend, die gerade in der Thalöffnung lag, „und unmittelbar darüber auf jenem Hügel liegt das Stammschloß Ihrer Familie, Herr Baron.“

„Ich weiß es; ich bin vor Jahren einmal mit meinem Vater dort gewesen,“ erwiderte Paul, indem er das Fernglas auf das umfangreiche Gebäude richtete, das in der Ferne sichtbar war. Es erhob sich nicht wie Felseneck aus starren Felsen und düsteren Tannen, sondern stand auf freier, lichter Höhe und blickte weit in die Ebene hinaus. Ringsum breiteten sich die reichen Werdenfels’schen Besitzungen aus, während zahlreiche Dörfer und Landsitze sich in der Nachbarschaft zeigten.

„Und dieser schöne Wohnsitz mit seiner herrlichen Lage, seinen weiten Gärten und Terrassen ist nun ganz verödet?“ fragte Paul, indem er das Glas wieder sinken ließ.

„Er wird sorgfältig vor dem Verfall geschützt,“ erklärte der Haushofmeister. „Der Herr weist jährlich bedeutende Summen an, um das Schloß und die Gärten im Stande zu erhalten.“

„Aber er hat es seit dem Tode seines Vaters ja wohl niemals wieder betreten?“

„Nein, niemals wieder!“

„Seltsam! Es hieß freilich, es sei damals etwas vorgefallen, was ihm den Aufenthalt verleidete.“

„Nicht, daß ich wüßte.“

„Nicht?“ fragte Paul, den alten Mann scharf fixirend. „Ich weiß aber doch, daß bei meinen Eltern oft davon die Rede war. Ich erinnere mich nur nicht mehr genau, um was es sich dabei handelte; man achtet als Knabe nicht viel auf solche Dinge. Sie aber waren damals jedenfalls schon im Dienste des Freiherrn. Wissen Sie wirklich nichts darüber?“

„Durchaus nichts, Herr Baron!“

„Ebenso gut könnte ich einen Stein zum Reden bringen wie dieses Mumiengesicht!“ dachte Paul ärgerlich, indem er seine Beobachtungen wieder aufnahm. „Und dieses weiße Schlößchen oder Landhaus dort drüben, gehört das auch zu den Werdenfels’schen Besitzungen?“ fragte er nach einer Pause.

„Nein, das ist Rosenberg, ein kleines Landgut, das einer verwittweten Dame gehört.“

„Eine Wittwe also – vermuthlich auch über Sechszig!“ sagte Paul; das heißt die letzten Worte dachte er nur, ohne sie auszusprechen. Im Grunde waren ihm alle diese Dinge herzlich gleichgültig; er fragte nur aus Langeweile weiter. „Und wie heißt die Besitzerin?“

„Frau von Hertenstein.“

Das Glas wäre beinahe zu Boden gefallen; so jäh und hastig wandte sich der junge Mann um.

„Wie nannten Sie die Dame?“

„Frau von Hertenstein,“ wiederholte der Haushofmeister, befremdet über die leidenschaftliche Frage und die helle Röthe,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_057.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2023)