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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)


Blätter und Blüthen.


Schutz den Füßen! Wer kennt nicht jene Fabel von dem Magen und den Gliedern des Menschen, welche einst Menenius Agrippa dem römischen Volke, welches die Stadt verlassen wollte, vortrug? Wenn die Füße noch heute ebenso reden könnten, so würden sie uns ohne Zweifel bittere Klagen hören lassen. Sie würden einen energischen Protest erheben gegen den unduldsamen Druck, dem sie ausgesetzt werden; sie würden die Mode und die ganze Schuhmacherei als ihre schlimmsten Tyrannen ohne Erbarmen verurtheilen.

Wir sehen, wie nun, nachdem diese Zeilen von den Millionen unserer Leser durchflogen worden sind, auf den meisten Gesichtern ein spöttisches oder mindestens zweifelndes Lächeln den Mund umspielt; wir hören Hunderttausende vor sich hin flüstern: „Wir sind doch wahrlich keine chinesischen Damen, um so hart und bedingungslos verurtheilt zu werden;“ wir sehen auch manchen ehrbaren Meister die Stirn runzeln, und wir hören seinen zornigen Ausruf: „Wie? Ist denn der Rückgang des Kleingewerbes, ist denn unsere Noth nicht groß genug? Muß da noch ein Volksblatt wie die ‚Gartenlaube‘ solche Ansichten in die breitesten Schichten des Volkes hinausposaunen?“

Und doch bleiben wir, trotz dieser Opposition, bei unserer Behauptung.

Wir wissen wohl, daß es laut der Zählung vom 1. December 1880 im deutschen Reiche 249,996 Schuhmacherbetriebe mit 374,205 Handwerkern gab, daß also auf 10,000 Einwohner in Deutschland 86 Schuhmacher kommen. Wir würdigen wohl die hohe Bedeutung dieses Standes für die Wohlfahrt des Volkes, und wir selbst würden es in erster Linie beklagen, wenn dieses Klein-Bürgerthum von dem Großcapitale verschlungen würde und die Meister zu Fabrikarbeitern herabsinken sollten. Indem wir hier gewissermaßen klagend gegen das Schuhmachergewerbe auftreten, geben wir ihm gleichzeitig Mittel an die Hand, sich zur neuen Blüthe aufzuraffen. In diesem Sinne mögen die nachstehenden Ausführungen verstanden werden und Niemanden verletzen.

Alle aber, die an der Richtigkeit unserer obigen Behauptung zweifeln, stellen wir vor die einfache Frage: Wie sind die Füße unserer heutigen Generation beschaffen? Sind sie gut oder schlecht? Das ist nun eine Frage, die gar schwer zu beantworten ist; denn eine Statistik der gesunden und kranken menschlichen Füße wurde niemals aufgenommen. Und doch läßt sich diesem Mangel wenigstens theilweise abhelfen. Ein Fachmann auf diesem Gebiete, Dr. Vötsch[1] hat die Aushebungslisten des württembergischen Heeres geprüft und gefunden, daß etwa der zehnte Theil der unbrauchbaren Mannschaft wegen Fehler an den Füßen für den Militärdienst untauglich war, und ein anderer mit den Verhältnissen gut vertrauter Arzt hat so gar die Behauptung aufgestellt, daß sich die Zahl der schlechtfüßigen Mannschaft auf 25 Procent belief. Da nun die Zahl der mit fehlerhaften Füßen zur Welt kommenden Menschen eine verschwindend kleine ist, so liegt die Vermuthung nahe, daß an der großen Verbreitung der Fußübel unsere Fußbekleidung schuld ist. Und in der That ergiebt eine genaue ärztliche Untersuchung, daß mit vollkommen normalen Füßen nur diejenigen kleinen Erdenbürger ausgestattet sind, die noch niemals der Culturwohlthat theilhaftig wurden, auf Schusters Rappen zu laufen, Diese Thatsache wird uns durchaus nicht befremden, wenn wir die Art und Weise, wie heute Stiefel und Schuhe angefertigt werden, kennen lernen. Dr. Vötsch sagt hierüber in seinem oben citirten Werke:

„Wer Schuhe oder Stiefel braucht, der läßt sich solche entweder nach alter Väter Sitte – von einem Schuster anmessen, oder aber er geht, wie es heutzutage vielfach gebräuchlich ist, in einen Schuhbazar, eine Schuhfabrik, und kauft sich da fertige Waare. Wie es in dem einen, wie im andern Fall zugeht, was dabei erreicht wird, soll zunächst Gegenstand der folgenden Besprechungen sein.

Wenn der Schuster einem Kunden Schuhe oder Stiefel anfertigen soll, so läßt er diesen sich setzen, den Stiefel eines Fußes sich ausziehen und nimmt nun seine Maße. Damit macht er ohne Wissen und Willen – nicht weniger als drei Fehler auf einmal. Denn 1) weiß oder berücksichtigt er nicht, daß der freihängende Fuß kürzer und schmäler ist, als der belastete (während des Stehens), weshalb seine Maße zu klein ausfallen müssen; 2) mißt er über den Strumpf an, der die Zehen einander genähert erhält – ein weiterer Grund, daß die Maße unrichtig, Form und Umfang der Fußbekleidung zu klein werden müssen; zudem kann er auf diese Weise ja keinen richtigen Begriff vom Zustand der Füße bekommen, die er gar nicht einmal sieht; 3) begnügt er sich mit nur einem Fuß, statt beide zu messen und zu vergleichen, die oft sehr verschieden von einander sind, also auch verschiedene Form und Größe des Stiefels verlangen. Und mit diesen falschen Maßen in der Tasche, die bis zu einem gewissen Grade zu corrigiren (‚ab- und zuzugeben‘) der Eine mehr, der Andere weniger versteht und gewöhnt ist, geht der Meister nach Hause, um zu einem weiteren verhängnißvollen Act zu schreiten, respective einen vierten Fehler zu machen, nämlich durch die Wahl des Leistens oder Leistenpaares in seinem Leistenschrank.

Wir sind hier bei dem wichtigen Capitel von den Leisten angelangt. Es hat damit folgende Bewandtniß. Bekanntlich bedarf der Schuster zur Herstellung jeder Fußbekleidung eines Leistens, das heißt einer Nachbildung des Fußes aus einem Material, das eine bestimmte derbe Behandlung (Klopfen, Nageln) ertragen muß und bis jetzt durch etwas Anderes als Holz nicht ersetzt worden ist. Ueber diese Form her werden die verschiedenen Materialien, aus denen die Fußbekleidung zu bestehen hat, wie eine Schale oder ein Gehäus zusammengesetzt, wonach der Leisten wieder herausgenommen wird, an dessen Stelle nun der Fuß kommt. Wie der Leisten, so der Schuh oder Stiefel.

Eine auch nur oberflächliche Vergleichung dieser Leisten mit verschiedenen Füßen läßt indeß fürwahr nur eine entfernte Ähnlichkeit zwischen beiden erkennen, während solche doch vernünftigerweise eine größtmögliche sein müßte, um die Fußbekleidung dem Fuß möglichst ähnlich werden zu lassen. Der Fuß war zuerst da; nach ihm, sollte man denken, hat sich die Fußbekleidung, zunächst aber der Leisten, zu richten, nicht umgekehrt.

Thatsächlich haben wir es aber wirklich bisher mit einer Umkehrung dieses Verhältnisses zu thun. Und darunter haben wir schwer zu leiden gehabt. Bei näherem Zuschauen erklärt sich das ziemlich einfach. Die Leisten pflegt der Schuster, der blos Lederspecialist ist, nicht selbst herzustellen, sondern sie fertig von einem Specialisten in der Holzbranche, dem Leistenmacher, zu beziehen. Es wird noch Niemand davon gehört haben, daß ein Leistenmacher mit anatomischen und physiologischen Kenntnissen vom Bau und von den Verrichtungen des menschlichen Fußes sich befaßt oder dies auch nur als wünschenswerth oder nothwendig erkannt hätte. Derselbe stellt eben aus einem Stück Holz nach bestimmten Schablonen und nach seinem Kopf – nicht nach den Füßen – geformte Modelle dar, deren Abnahme ihm immer gesichert bleibt, weil sie der Schuster eben haben muß. Dieser ist von ihm abhängig. Und dieses Verhältniß gerade ist vom Uebel und von weittragenden Folgen begleitet. So, wie die Dinge bisher lagen, pflegte sich der Schuster, sobald er einen selbstständigen Geschäftsbetrieb anfing, eine Anzahl Leisten von verschiedener Größe und Form, Fabrikleisten, beizulegen und ab und zu nachzukaufen. Der Glücksfall nun, daß der Schuster unter seinem Vorrath von Leisten gerade ein oder zwei Paar findet, mit welcher seine Maße genau übereinzustimmen scheinen, wird zu den selteneren Vorkommnissen gehören. Er muß also darauf Bedacht nehmen, sich anderweitig zu helfen, sich zu behelfen. Dies heißt so viel: er sucht den am ehesten mit seinen Maßen im gegebenen Fall übereinstimmenden Leisten aus, nimmt etwa da etwas vom Holze weg, befestigt dort eine dünnere oder dickere Schicht Leder, um den Leisten dicker zu machen – und wenn auf diese Weise vollständige Uebereinstimmung zwischen Fuß und Leisten doch noch immer nicht erreicht wird, so bleibt es dem ersteren überlassen, sich nach dem Leisten zu richten und nach der Decke zu strecken. Daß eine nach solchen Leisten gemachte Fußbekleidung den Fuß abzwingt, Meister über ihn wird, das zeigen die verschiedenen mißgestalteten Füße in überzeugendster Weise, die ja doch nur anerzogen und Kunstproducte sind.“

Die obige klare Schilderung genügt vollständig, um einen Mangel des heutigen Schuhmachergewerbes zu beleuchten, sie genügt aber auch, um uns den Werth der Fabrikwaare, die nur nach Durchschnittsleisten hergestellt wird, im richtigen Lichte zu zeigen. Jeder Unbefangene wird nach dieser Darlegung dem Verfasser beipflichten, daß eine Reform des Schuhmachergewerbes durchaus nothwendig ist.

Der Schuster muß zuerst und hauptsächlich Leistenmacher sein; im Anfertigen rationeller Leisten für jeden Einzelfall muß er seine Hauptaufgabe und Hauptkunst suchen. Er wird sich entscheiden müssen, ob er blos „Verschönerungskünstler“, nur Specialist in eleganter Leder- und dergleichen Arbeit, oder aber rationeller Fußbekleidungskünstler, Berather und Helfer in allerlei Fußangelegenheiten sein will. Im letzteren Fall kann es ihm gleichgültig sein, ob er für Holzarbeit oder für Lederarbeit bezahlt wird; ersterer braucht er überdies nur einmal bei einem Kunden sich zu unterziehen. Ordentliche, vernünftige Leute werden kaum die geringe Mehrausgabe für das erste Paar Stiefel scheuen, welches über diese neuen, ihnen nun eigen gehörigen und sie in alle Zukunft vor unbrauchbaren Stiefeln schützenden, rationellen Leisten gemacht ist.

Es ist nur die einfache Folgerung des bisher Ausgesprochenen, daß das Urtheil über den Großbetrieb der Schusterei, über Schuhfabriken und Schuhbazars, da hier nicht für den gegebenen Fall gearbeitet und nicht über bestimmte Füße angemessen wird, vom rationellen Standpunkt aus nicht anders als ungünstig lauten kann.

Und wahrlich, nur durch ernstes Eingehen auf diese Grundsätze wird es dem Kleingewerbe möglich sein, die Concurrenz der Maschinenarbeit siegreich aus dem Felde zu schlagen. Auf dieses Gebiet der wahren Meisterarbeit wird ihm kein Fabrikant folgen können. Ader eine derartige Reform kann nicht ohne Zuhülfenahme besonderer Mittel ausgeführt werden. Die Bemühungen einzelner Meister und einzelner Vereine, die anerkennenswerther Weise hier und dort bereits aufgetaucht sind, reichen dazu nicht hin. Einem Gewerbe, das eine Viertelmillion Betriebe aufzuweisen hat, darf und muß der Staat helfen, aber nicht in dem jetzt so beliebten staatssocialistischen Sinne, daß er die Producirenden mit Geld unterstützt, sondern dadurch, daß er Fachschulen für Schuster, Schusterakademien, errichtet, die mit tüchtigen ärztlichen und technischen Lehrkräften und allen nöthigen Lehrmitteln ausgerüstet sind. Auch in diesem Punkte muß man unbedingt dem Verfasser Recht geben, wenn er sagt:

„Während man von Schneider-, Müller-, Brauer-, Gärtner- und ähnlichen Akademien, landwirthschaftlichen Instituten, Ackerbauschulen und dergleichen hört und liest, während man sich in den industriellen Kreisen mehrerer Städte mit dem Plane beschäftigt, Fachschulen sogar für Kesselwärter zu errichten, ja während der deutsche und österreichische Alpenverein behufs der Ausbildung tüchtiger Bergführer im Hochgebirge die Einführung von Führer-Instructions-Cursen beschlossen hat etc., ist es – wenige Ausnahmen abgerechnet – von Schuster-Akademien und -Fachschulen still geblieben.

  1. Wie verweisen bei dieser Gelegenheit auf das beachtenswerthe, soeben erschienene Buch: „Fußleiden und rationelle Fußbekleidung“ von Dr. Vötsch in Nürtingen in Württemberg (Stuttgart, J. B. Metzler’sche Buchhandlung, 1883), welches durch alle Buchhandlungen für 2 Mark zu beziehen ist. Auch bitten wir unsere Leser, den Artikel: „Eine drückende Frage“ im Jahrg. 1877, S. 333 der „Gartenlaube“ nachschlagen zu wollen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_055.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)