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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

des Ortes erblicken; genug, er zog den spitzen Stahl, den die meisten der kurzen, harmlos erscheinenden Derwischstäbe, gleich unseren Stockdegen, im Innern beherbergen, und schlich von hinten an den Künstler heran. Dieser ward noch rechtzeitig des Attentats gewahr, vertheidigte sich mit seinem Feldstuhl und entwaffnete endlich mit Hülfe eines herbeigerufenen Dritten den rasenden Mönch.

Mit der Entstehung der Derwischorden, welche namentlich im zwölften Jahrhundert wie die Pilze aufschossen, wurde ein neues fremdes Element auf den Islam übertragen. So mannigfach auch die äußere Gestaltung der Orden war, so bildete doch der sufische Pantheismus – der Glaube, „daß das verborgene Lebensprincip, welches die verschiedenen Formen des Weltorganismus erzeugt, nur das Erzittern des göttlichen Wesens sei“ – die allgemeine Grundlage der verschiedenen Schulen.

Viele Orden hatten aber neben der öffentlichen noch eine Geheimlehre. Nach jahrelangen Prüfungen und Kasteiungen erfuhr der bewährte Neugeweihte, daß der Prophet unter dem Schleier symbolischer Verhüllung nur politische oder sociale Grundsätze aufgestellt habe, daß der Koran nur ein todter Buchstabe und die Auslegung desselben das allein Wahre, Wissenswürdige sei. „Wenn man außerhalb der Kaaba[1] steht,“ lautete z. B. ein von Dschelaleddin ausgesprochener Glaubenssatz, „so ist es gut, seine Blicke auf dieselbe zu richten; wer aber drinnen steht, mag sich wenden, wohin er will.“

Eine solche Lehre, welche darauf ausging, ihre Bekenner von den Landesgesetzen unabhängig zu machen und womöglich unter die ausschließliche unumschränkte Botmäßigkeit ihres Scheikh zu bringen, mußte gar bald zu einem Conflict mit dem Clerus und der herrschenden Classe führen. Das Chalifat sah mit Recht das Bestehen seines Staatssystems durch diese Geistesrichtung bedroht, die um so gefährlicher erscheinen mußte, als sie gleichzeitig der nationalen Bewegung zum Deckmantel diente. Es war nicht mehr der bloße Dogmenstreit; es war der Rassenkampf zwischen dem persischen und arabischen, zwischen dem indogermanischen und semitischen Element, der jetzt aufloderte.

Wander-Derwisch.
Nach einer Skizze von L. von Hirschfeld.
Auf Holz gezeichnet von G. Broling.

Es begann nun eine Zeit grausamster Verfolgung, die mit dem Blut zahlloser Märtyrer bezeichnet ist. Gelang es auch den Chalifen, die nationale Gährung niederzuhalten, so vermochten sie doch nicht zu verhindern, daß der Sufismus im Verborgenen fortwucherte, ja hier und da neue Triebe ansetzte und schließlich wieder in voller Blüte stand. Die Beispiele festen Duldermuthes, welche die Derwische, gleich den christlichen Märtyrern, ihren Peinigern gaben, gewannen selbst unter diesen der bekämpften Lehre neue Anhänger. Nach und nach erlahmte die Verfolgung, und die Unsicherheit, mit der die letzten gegen das Derwischthum gerichteten Schläge geführt wurden, bekundete hinlänglich die beginnende Erschlaffung und wachsende Ohnmacht des Sultanats.

In dem Maße, wie die Zahl der Orden sich nun wieder mehrte, wie die einzelnen Tekés sich durch Schenkungen und Speculationen bereicherten, wuchs auch der politische Einfluß der Derwische. Sie erhielten bald ungehindert Zutritt zu den Höfen der Großen, wurden deren Vertraute und Rathgeber; wir finden sie später in der nächsten Umgebung der Chalifen; ja im Jahre 1501 gelang es sogar einem Derwisch, Ismail Lefevi, sich auf den persischen Thron zu schwingen und so Begründer der „sophischen" Dynastie zu werden. – Nur die Priesterkaste der Ulemas setzte, wenn auch auf dem unblutigen Felde schriftstellerischer Polemik, den Kampf mit ungeschwächtem Eifer fort, weniger vielleicht aus Liebe zur Reinheit ihrer Lehre, als zur Vertheidigung der ihr vom Derwischthum mit Erfolg bestrittenen Herrschaft im Serail.

Die stärkste Stütze aber fanden die Derwische an dem berühmten Corps der Janitscharen, mit dem der Orden der Begtaschi, der Bettelderwische, von Alters her durch eine Art Waffenbrüderschaft verbunden war. Als Sultan Orkhan diese „neue Truppe“ (jeni-tscheri) im Jahre 1328 gründete, wollte er, getreu dem Princip seiner Vorgänger, welche allen weltlichen Ordonnanzen durch das beigedrückte Siegel des Mufti eine religiöse Weihe geben ließen, auch diesem militärischen Institut einen religiösen Charakter beilegen. Der damals am Hofe in großer Gunst stehende Scheikh der Begtaschi segnete die Truppen ein, indem er den weiten Aermel seines Mantels auf das Haupt der höheren Officiere legte. Zur Erinnerung an diese Weihe trugen letztere seitdem an dem Turban jenen eigenthümlichen auf den Rücken herabhängenden Filzlappen. Von nun an waren beide Corporationen Verbündete und theilten sich in die Herrschaft über die ohnmächtigen Regenten. Die Begtaschi begleiteten die Truppen in’s Feld, und in der Caserne am Atmeidan mußten beständig acht Ordensbrüder für die Wohlfahrt des Heeres und den glücklichen Erfolg der Waffen beten.

Da erfolgte im Jahre 1826 der fürchterliche Schlag, welcher die verwilderte Prätorianergarde vernichtete. Um sich von dem Einflusse der Janitscharen zu befreien, errichtete nämlich Mahmud der Zweite ein eigenes türkisches Heer nach europäischem Muster. Im Mai 1826 erließ er dann den Befehl, daß ein Theil der Janitscharen in die neuen Truppen eintreten solle. Da weigerten sich aber die wilden Krieger, diesem Befehle zu gehorchen, stürmten das Haus ihres Führers und rückten selbst gegen das Serail vor. Nun ließ der Sultan die heilige Fahne des Propheten entrollen und hierdurch alle Gläubigen zu den Waffen rufen. Mit den treu gebliebenen Truppen warf er die Aufrührer in ihre Caserne zurück und steckte dieselbe in Brand, wobei gegen 8000 Janitscharen den Flammentod fanden. Am 16. Juni desselben Jahres erfolgte eine Bekanntmachung, welche die Institution der Janitscharen aufhob und ihren Namen mit Fluch belegte. Die grausame Verfolgung, die nunmehr gegen die Besiegten in Scene gesetzt wurde, mußte sich natürlich auch gegen die Derwische, namentlich gegen die mächtigen, mit den Janitscharen verbrüderten Begtaschi, richten. Ihre Scheikhs wurden hingerichtet, die Klöster verbrannt; der ganze Orden wurde aufgehoben. Diese kühne Maßregel traf die Derwische wie ein Schlag aus heiterem Himmel.

Unfähig zu fliehen, „lehnten sie,“ wie der Chronist sagt, „starr an der Mauer, bleichen Entsetzens und sahen die Fackel des Lebens erlöschen“.

Allein die Energie des Reformators erlahmte noch im letzten Augenblick. Waren es religiöse Bedenken, war es die Furcht vor der Wuth des Pöbels oder glaubte er weit genug gegangen zu sein – genug, Sultan Mahmud gab die anfangs beabsichtigte Aufhebung sämmtlicher Derwischorden und die Einziehung der geistlichen Güter auf. Es ist nicht zu sagen, wie viel dieser Augenblick der Schwäche dem türkischen Staat gekostet hat, wie

  1. Mohammed’s viereckiger Tempel in Mekka.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_048.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2023)