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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

No. 3.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Paul kam der Aufforderung nach und trat gleichfalls auf den Altan. Es war während der letzten Stunden klarer geworden; die Wolken jagten und zogen noch an den Bergwänden hin, aber der Nebel war gesunken, und die Gipfel zeigten sich unverhüllt. Man blickte von diesem Theile des Schlosses aus unmittelbar hinunter in die schwindelnde Tiefe eines öden Felsenthales, aus dem nur Klippen emporstarrten, während unten in dem nebelumhüllten Grunde der Bergstrom tobte, dessen Brausen bis hier herauf drang. Drüben flatterten die Wolken an den jähen Abstürzen einer Felswand, deren Fuß dunkle Wälder umsäumten, während die Höhe nackt und kahl aufragte, und ringsum lagerten die Häupter des Gebirges, die, zum Theil schon schneebedeckt, in schweigender Majestät niederblickten. Nirgends war eine menschliche Wohnung zu erblicken, nirgends ein milderer Zug in diesem Gemälde wilder Großartigkeit – ringsum nur Felsen, Tannen und Schneegefilde!

Dem Schlosse gerade gegenüber stieg ein einzelner, riesiger Gipfel empor, der, fast in Pyramidenform gestaltet, all die andern überragte. Auch er trug das leuchtende Schneegewand, aber er thronte einsam, wie ein Herrscher über der ganzen Bergwelt. Obgleich die Weite des Thales zwischen ihm und dem Schlosse lag, schien er doch in unmittelbarer Nähe zu sein, und es lag beinahe etwas Drohendes in dieser Nähe. Es war, als wolle der Berg mit seinen eisigen Wänden die Menschenwohnung erdrücken, die sich bis in sein Gebiet hinaufgewagt hatte.

„Wir werden Sturm bekommen,“ sagte Werdenfels, dort hinauf weisend. „Wenn die Geisterspitze sich so nahe zeigt, müssen wir ihn stets erwarten.“

„Ist das der Sturmprophet der Gegend?“ fragte Paul. „Er hat allerdings etwas Geisterhaftes. Mir wäre es unheimlich, wenn ich immer diese starre weiße Wand vor Augen hätte.“

„Mir ist sie vertraut, schon seit Jahren. Ich und die Geisterspitze, wir kennen einander – nur zu gut.“

Die Worte wollten anscheinend gar nichts Besonderes sagen; dennoch fiel ihr Klang dem jungen Manne auf, ebenso wie der Ausdruck in dem Gesicht seines Onkels. Er hatte die Regungslosigkeit dieser Züge anfangs für ruhigen Ernst gehalten, aber es war etwas Anderes. Allmählich trat immer deutlicher eine Starrheit und Leblosigkeit hervor, die etwas Unheimliches hatte. Jede leidenschaftliche Empfindung, jede warme menschliche Regung schien darin begraben zu sein, und der Blick, welcher unverwandt an jenem Schneegipfel hing, war wohl träumerisch aber auch in ihm lag dieselbe todte Ruhe.

Der Freiherr schien den beobachtenden Blick zu spüren; denn er wandte sich plötzlich um und fragte:

„Wie gefällt Dir die Aussicht?“

Paul zögerte mit der Antwort.

„Du vermagst ihr wohl keinen Geschmack abzugewinnen?“

„Wenn ich offen sein soll – nein!“ entgegnete der junge Mann. „Sie ist ja unendlich großartig und mag auch einen mächtigen Reiz ausüben – auf Stunden. Wenn ich aber verurtheilt wäre, Tag für Tag immer nur in diese Felsenöde zu schauen, so würde ich schon in der ersten Woche Selbstmordgedanken hegen und in der zweiten hinunterstürzen in das erste beste Dorf, um nur wieder Menschen zu sehen und zu fühlen, daß ich nicht allein auf der Welt bin.“

„Das wäre allerdings das Schwerste für Dich!“ sagte der Freiherr mit leisem Spott. „Ich würde es ertragen.“

Er trat wieder in das Zimmer zurück und gab Paul einen Wink ihm zu folgen.

„Vermuthest Du nicht, weshalb ich Dich nach Deutschland zurück rief?“ fragte er dann, seinen früheren Platz wieder einnehmend.

„Nein, aber ich gestehe offen, daß es mich überraschte. Du hattest bisher nie den Wunsch, mich zu sehen.“

„Ich hatte ihn auch jetzt nicht, aber es war doch wohl nothwendig, daß Dein Aufenthalt in Italien ein Ende nahm. Vielleicht fühlst Du das selbst.“

Paul sah betreten auf.

Der Onkel konnte doch unmöglich etwas Anderes von diesem italienischen Aufenthalt wissen, als was die Briefe des jungen Mannes ihm davon berichteten.

„Ich?“ fragte er ungewiß, „wie meinst Du das?“

„Du weißt, ich habe die Vormundschaft über Dich stets nur dem Namen nach geführt, sagte Werdenfels ruhig. „Du bist Dir seit dem Tode Deiner Mutter gänzlich allein überlassen gewesen. Ich liebe es nicht, den Mentor zu spielen, und ich greife auch jetzt nur sehr ungern ein, aber Du selbst hast meine Einmischung herausgefordert. Du bist mir doch nun einmal von Deinem sterbenden Vater übergeben worden, und ich kann mich der übernommenen Pflicht nicht entziehen. Du hast dafür gesorgt, daß sie unabweisbar an mich heran tritt.“

In dem Antlitz Pauls stieg eine dunkle Röthe auf. Er verstand nur zu gut, wohin diese Worte zielten, wenn es ihm auch unbegreiflich blieb, wie der Onkel in seiner weltverlorenen Einsamkeit zu der Kenntniß jenes Treibens gekommen war. Dennoch versuchte er sich zu vertheidigen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_041.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2023)