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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

derselben war das streng und deutlich abgeschlossene Religionssystem Mohammed’s unklar, schwärmerisch-unfaßbar geworden; es schlug zu einer Art „Gefühlsschwindel“ um, wie Ghazzaly es sehr treffend bezeichnet. Wie immer in Zeiten religiöser Schwärmerei, so machte sich auch jetzt hier eine exaltirte Richtung geltend, welche bald zu mönchisch-düsterem Fanatismus führte, bald in verzückten, durch künstliche Reizmittel erregten Seelenzuständen gipfelte, oft aber auch in fessellose Genußsucht ausartete, wie sie uns in ihrer heitersten und anmuthigsten Form in den Gesängen des Hafis, des Dschelaleddin Rumi und anderer persischer Dichterfürsten entgegentritt.

Die Poeten jener Zeit waren gewöhnlich Sufys, und – was der Literatur weniger förderlich war – jeder Sufy wollte Poet sein. Wer nur halbwegs correcte Verse machte, hielt sich für einen Erleuchteten und stand bald im Geruch der Heiligkeit. Die wahnsinnigsten Phantastereien fanden willig Glauben, und Betrug und Heuchelei begannen die Leichtgläubigkeit des Volkes zu eigennützigen Zwecken auszubeuten. Die Illuminaten gaben vor, Zusammenkünfte mit Engeln, Geistern, ja selbst mit dem höchsten Wesen zu haben. Derartige spiritualistische Extravaganzen, – ähnlich denen, welche die jüngste Gegenwart aufzuweisen hat, – waren übrigens wiederum die Veranlassung, daß die wenigen wahrhaft aufgeklärten Köpfe dem Sufismus, und mit ihm dem Derwischthum, entfremdet wurden. Sie entlocken Hafis die zornigen Worte:

„Komm, Sofy, komm, und laß uns aus der Heuchler
Befleckt Gewand ziehn,
Laß über ihre freche Lügentafel
Die nasse Hand ziehn!

Laß, öder Zelle Dunkelheit verfluchend,
Den Weinpokal uns
Aufstecken als Panier und also jauchzend
Durch’s weite Land ziehn!

Wir wollen nichts als gute Thaten üben;
Laß zwischen sie uns
Und nachtgeborne Fanatismen endlich
Die scharfe Wand ziehn!“[1]

Und doch war Hafis selbst in der schrankenlosesten Epoche seines späten Dichterfrühlings, als ihn sein Weg „weitab von der Moschee und allen Bonzen fern“ zur Schenke führte – doch war auch er keineswegs der liebenswürdige Schlemmer, der ewig Verliebte, der dithyrambische Sänger, als den wir ihn kennen. Er hat sein und seiner Freunde Glaubensbekenntniß niedergelegt in folgenden Strophen, die für jene ganze Bewegung charakteristisch sind:

„Wir, Vater Schemseddin und seine Kinder,
Wir, Scheich Hafis und seine frommen Mönche,
Wir sind ein eignes wunderliches Volk,
Von Gram gebeugt und ew’ger Klage voll,
Ohn’ Unterlaß in unserm Trauerjoch
Des feuchten Auges heiße Perle streuend,
Und ewig hell und ewig heiter doch;
Der Kerze gleich hinschmelzend und vergehend,
Und doch, wie sie, in lichter Wonne lachend; –

Versunken in ein Meer von Schuld und Sünde,
Ganz unbekannt mit dem Gefühl der Reue,
Und fromm zugleich und frei von allem Argen,
Des Lichtes Söhne, nicht der Finsterniß,
Und so der Menge unbegreiflich.“

Jene Mischung von äußerem Fanatismus und innerlich lockerer Moral ward bald ein charakteristisches Merkmal des Derwischthums. Für die strengen Ordensregeln, für die Büßungen und Kasteiungen des Tages suchte man sich des Nachts durch Ausschweifungen aller Art zu entschädigen. Die Tekés[2] wurden, wie so manche christliche Mönchsklöster, der Schauplatz raffinirtester Orgien. Aehnlichen Erscheinungen begegnen wir übrigens noch heutigen Tages selbst beim orthodoxen Islam. Die Fastenregeln des Korans werden während des Ramazân mit größter Strenge innegehalten. Der Gläubige darf am Tage nichts genießen, auch nicht rauchen, ja nicht einmal Wasser trinken. Die orientalische Spitzfindigkeit hat aber zum Ersatz dafür die Nacht zur Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse freigegeben, und mit dem Kanonenschuß, welcher den Sonnenuntergang verkündet, beginnt ein lustiges, lockeres Carnevalsleben. Es ist dies die Zeit geselliger Vergnügungen, großartiger Gastereien; die Reichen halten während der ganzen Nacht offenes Haus und freie Tafel für ihre Freunde und Schmarotzer; die Theater und Concertsäle in Pera und Galata sind überfüllt und werden oft erst mit dem ersten Sonnenstrahl geschlossen.

Die Zahl der gegründeten und wieder verschwundenen Derwischorden ist ungeheuer; denn der Orientale knüpft die Geschichte mehr an Personen und Namen, als an Gedanken und inneren Zusammenhang. Daher die Menge der Secten und Brüderschaften, welche oft nur durch die Namen ihrer Stifter, nicht aber durch innere Meinungsverschiedenheit von einander gesondert sind. Mohammed selbst soll gesagt haben: „Meine Gemeinde wird sich in dreiundsiebenzig Secten spalten; eine einzige davon wird selig, die anderen gehen zu Grunde.“

Der erste Theil dieser Prophezeiung war bald erfüllt. Noch zu d’Onori’s Zeit – Mitte des achtzehnten Jahrhunderts – bestanden im osmanischen Reich sechsunddreißig geschlossene Derwischorden, die er einzeln namhaft macht. Der Leser wird mir die Aufzählung derselben gewiß gern erlassen, um so mehr, als mehrere davon inzwischen untergegangen, andere nur noch in den fernen halb barbarischen Grenzlanden im inneren Asien anzutreffen sind.

Uns interessiren natürlich diejenigen am meisten, die noch heute im türkischen Staat moralischen Einfluß und politische Bedeutung haben. Dies sind folgende sechs Orden:

1) Mewlewi oder der Orden der sogenannten „drehenden“ Derwische. Ihr Stifter war der durch Rückert’s Uebersetzungen in weiteren Kreisen bekannt gewordene mystische Dichter Mewlana Dschelaleddin Rumi (gestorben 1276 n. Chr.). Seine lyrischen und didaktischen Lieder athmen verzückte Gottesliebe; man glaubt in den mystischen kirchlichen Gebräuchen, welche durch die Einführung der orchestralen Musik in directem Widerspruch zu den Bestimmungen des Koran standen, eine Neubelebung, wenn nicht gar eine Fortsetzung des alten Cybele-Cultus[3] annehmen zu dürfen. In der That ist Koniah, das alte Ikonium, noch jetzt der Sitz des Ordensgenerals. Auch der Stifter stammt aus diesem Ort, und die phrygische Flöte, welche bei den griechischen Mysterien eine so bedeutende Rolle spielte, ist noch heute das Lieblingsinstrument der Mewlewi.

Vielleicht ließe sich auch der Tanz, jenes gleichmäßige um sich selbst und im Kreise Drehen, auf die Ceremonien der Cybele-Priester zurückführen.

Der heutigen Erklärung nach ist es eine symbolische Handlung, welche andeuten soll, daß man Gott überall und unaufhörlich zu suchen habe. Die eine nach oben gewendete Hand empfängt die himmlischen Gaben, die andere herabgeneigte theilt sie der Erde mit. Die Annahme einer Kasteiung oder eines Reizmittels zur Erregung exotischer Zustände ist durchaus irrig.

Eine gehobene religiöse Stimmung mag wohl bei diesem Tanze angestrebt und erreicht werden; von einer Kasteiung kann aber um so weniger die Rede sein, als die Tänzer in Folge der jahrelangen Uebung völlig schwindelfrei werden und im Stande sind, nach fast halbstündigem Drehen sicheren Schrittes geradeaus zu gehen. Auch hat der Stifter selbst die symbolische Bedeutung des Tanzes in unzähligen Ghaselen (einer Art arabischer Gedichte) hervorgehoben. Ich entnehme der reichen Auswahl nur einige Beispiele:

„Tritt an zum Tanz; wir schweben in dem Reih’n der Liebe;
Wir schweben in der Lust und in der Pein der Liebe.

Ich sage dir, warum das Weltmeer schließt die Wogen:
Es tanzt im Glanze vom Weltedelstein der Liebe.

Ich kann die Räthsel alle dir der Schöpfung sagen;
Denn aller Räthsel Lösungswort ist Liebe.“

Die Liebe zu einem Alles durchdringenden Geist, der, wie Schlegel sagt, „im Stein schläft, im Thier träumt und im Menschen wacht“, ist der einzig wahre Mittelpunkt, um den sich unser ganzes Sein und Fühlen drehen soll. Sie ruft der gläubige Mewlewi an mit den Strophen:

„Ich bin die Reb’ – o komm, und sei der Rebe
Die Ulm’, um die ich meine Ranken webe!

Ich bin der Epheu –; sei mein Stamm, o Ceder,
Daß ich nicht dumpf am feuchten Boden klebe!

Ich bin der Vogel – komm und sei mein Flügel,
Daß ich empor zu deinem Himmel schwebe!

Ich bin das Roß – o komm und sei mein Sporen,
Daß ich zum Ziel auf deiner Rennbahn strebe!“

  1. Nach der Uebersetzung von Daumer.
  2. Klöster.
  3. Cybele, Landesgottheit der Phryger, die in vielen Städten Kleinasiens durch Orgien gefeiert wurde.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_027.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2023)