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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)


begleiten es nicht auf seinem Wege zu diesem Ziel; unsere Betrachtung galt eben nur dem Kautschuk in seinen ursprünglichsten Formen; aber auf die mancherlei Verwendungen, die der frische Saft im Urwalde erfährt, wollen wir noch einen Blick werfen.

Der atmosphärische Niederschlag ist in jenen Gegenden während der vergleichsweise kühlen Nächte sehr bedeutend. Kleidungsstücke und Papiere, die Nachts der Luft ausgesetzt bleiben, sind Morgens wie durch Wasser gezogen; Beile, Flinten, Waldmesser bedecken sich in einer Nacht mit einer Rostschicht. Dagegen muß nun die Seringa helfen. Hat das Boot oder gar die Hütte ein Dach von Segeltuch, so ist dies gewiß mit Seringa getränkt. Ja der Reisende, dessen Berichten wir vorzugsweise die interessanten Einzelheiten des Bildes verdanken, welches wir hier zu entwerfen versuchen[1], fand einmal bei seiner Rückkehr von einem Streifzuge einen seiner einheimischen Diener damit beschäftigt, sich selbst wasserdicht zu machen. Ein Bein war schon kautschukisirt, und das andere schwenkte der Eingeborene noch über dem Feuer hin und her, um einen neuen Aufstrich antrocknen zu lassen. Nur mit Gewalt war er von der Ausführung seines Vorhabens abzuhalten. Hat der Seringueiro sich geschnitten, geschunden, gestoßen oder sonst wie verletzt, flugs überzieht er die verletzte Stelle mit Seringa. Hat er am Abend bei festlichem Schmauß mit nur wenigen Genossen einen Hirsch verzehrt und fühlt am Morgen, daß er seiner Natur zu viel zugemuthet hat, so trinkt er einen tüchtigen Schluck Seringa. Seringa ist seine Universalmedicin.

Ist die Erntezeit vorüber, so zerstreut sich das muntere Volk der Seringueiros wieder nach allen Richtungen landeinwärts. Ob sie ihre im Stich gelassene Hütte wiederfinden? Nun, es wäre mehr, als die glühendste Heimathsliebe erwarten lassen könnte, wollten sie sich abmühen, das Laubdach zu suchen, das sie vor fünf Monaten verlassen. Können sie doch an der ersten besten Stelle außerhalb des Bereichs der steigenden Gewässer in vielleicht weniger Stunden eine neue Hütte bauen, als sie Tage gebrauchen würden, um die alte zu erreichen, und bieten ihnen Wald und Fluß doch überall, was sie zum Lebensunterhalt bedürfen. Wo’s ihr gefällt, läßt die Familie sich nieder, und wenn im nächsten Jahre die Zeit der Ernte kommt, sucht auch sie wieder, dem Wasserlaufe folgend, die unteren Flußthäler auf, um Kautschuk zu sammeln und Feste zu feiern.




Schilf-Lottchen.

Von Schmidt-Weißenfels.

Am 9. August des Jahres 1831 erhielt der Gymnasialprofessor Gustav Schwab in Stuttgart den Besuch eines Fremden, der ihn bei Nennung seines Namens auf’s Lebhafteste interessirte, abgesehen davon, daß er sich durch einen mündlichen Gruß von Anastasius Grün bei ihm einführte.

Es war Herr Nicolaus Niembsch von Strehlenau aus Ungarn, ein eleganter Mann von neunundzwanzig Jahren, mittelgroß und von wohlgebildetem Körperbau, mit einem großen, starkstirnigen Kopf, den glattgestrichenes, dunkles, nach vorn in den Spitzen sich kräuselndes Haar bedeckte. Ein die Lippen zierender und die Wangen leicht einrahmender Bart verlieh seinem bleichen, etwas gebräunten Gesicht den Ausdruck energischer Männlichkeit. Große dunkle Augen sprachen geistvoll daraus, bald herrisch mit sprühendem Feuer, bald aber auch mit einer tiefgrundigen Melancholie. Obwohl Ungar, wenn auch nicht magyarenblütig, sprach er doch ein vortreffliches Deutsch. Er befand sich auf dem Wege nach Heidelberg, um dort seine mehrfach gewechselten und endlich der Medicin bestimmt gewidmeten Studien abzuschließen.

Herr von Niembsch hatte kurz vorher unter dem Namen Nicolaus Lenau mehrere Gedichte an den Professor Schwab gesandt, die er im Cotta’schen Morgenblatt veröffentlicht zu haben wünschte, deren Redaction Schwab angehörte. Sie waren so eigenartig, so tiefempfunden, so echt dichterischen Gehaltes, daß sie den feinen Kenner entzückt hatten.

Niembsch nahm auf Schwab’s Einladung bei diesem Wohnung. Nirgends konnte er besser aufgehoben sein; denn schnell mußte seine von Zweifeln, Verbitterungen und krankhaften Phantasien erfüllte Seele in der behaglichen Ruhe trauter Gastfreundlichkeit, wie sie ihm Schwab’s Familie bot, gesunden. Ehrgeiz und Zwiespalt mit sich selbst und seinem äußeren Lebensplan quälten den jungen Poeten, was Schwab bald erkannte und dem er abzuhelfen eifrig bestrebt war.

Nicht nur, daß er gleich nach Ankunft desselben die ihm gesandten Gedichte „Der Gefangene“ und dann „Die Waldcapelle“ im „Morgenblatt“ zum Abdruck bringen ließ und damit, bei dem hohen Ansehen dieser Zeitschrift, den Dichter Nicolaus Lenau erfolgreich in die deutsche Literatur einführte – er übernahm es auch, bei Cotta den Verlag einer Gedichtsammlung von Lenau zu vermitteln, und schon am 29. August wurde der Vertrag darüber abgeschlossen. Der Ehrgeiz des Herrn von Niembsch schwelgte in der Freude des Erreichten; denn er verspürte wohl, daß seit dem Erscheinen seines ersten Gedichtes im „Morgenblatt“ der Ruhm ihn umschmeichelte. Höher trug er jetzt sein Haupt; als berufener Dichter sah er die Pforten einer glänzenden Zukunft geöffnet und viele schmachtende Augen schon dem aufgegangenen Stern folgen.

Andererseits hatte Gustav Schwab die beste Gelegenheit, seinem edlen Ungar und herrlichen Poeten, wie er ihn nannte, die für diesen wohlthuendsten geselligen Kreise der württembergischen Residenz zu erschließen, diejenigen, wo geistiges Können geehrt wurde und der Dichter, umflossen von berückendem Glanze der Romantik, doch mehr galt, als ein gewöhnlicher Alltagsmensch. Gerade in Schwaben war das glückliche Zeitalter für deutsche Dichter aufgegangen. Während der deutsche Norden schon in Druckwerken seine Plänkeleien gegen den trostlosen Polizeistaat begann, spann sich der Süden gegenüber der Armseligkeit der politischen Zustände in eine eigene Welt der Romantik ein, wo die Sehnsucht unbefriedigter Herzen ihre Klagen ertönen ließ. Wurde Berlin die Hauptstadt der deutschen Intelligenz, so war das kleine, ländlich idyllisch von seinen Weinbergen umfriedete Stuttgart zu einem Mekka für die deutschen Poeten geworden, wo sie im Cotta’schen „Morgenblatt“ und Buchverlag die Verkörperung ihrer Ideale fanden. In Schwaben sang es von allen Zweigen, wetteifernd mit den Nachtigallen im österreichischen Dichterwalde; hier war man mit Deutschlands Metternichtigkeit zufrieden.

Schwab war der Mittelpunkt des schwäbischen Dichterkreises, der feinsinnige Vertreter desselben nach außen, sein literarischer Ministerpräsident, sein Chorführer auf der Bahn, welche Uhland mit manneskräftiger Poesie gebrochen. Justinus Kerner, der Oberamtsarzt in Weinsberg, Geisterseher und romantisirender Humorist, gehörte ihm in erster Reihe mit an, ferner: Karl Mayer, der heitere, in Epigrammen und Naturgedichten so glückliche Oberamtsrichter in Waiblingen, die trefflichen Brüder Pfitzer, von denen Gustav vor Allen das freisinnige Zeitelement in diesem Kreise vertrat, Graf Alexander von Württemberg, „wild und muthig, ritterlich und herzlich“, Hermann Kurz, in dem noch Sturm und Drang der alten Zeit gährte, Eduard Mörike, der Pfarrvicar, gelegentlich schon mit einer volksthümlichen Lyrik in plastischer Vollendung hervortretend.

Einer der Mittelpunkte dieses dichterischen Kreises war auch der greise Geheimrath August Hartmann, Vater von vier anmuthigen, musicirenden, singenden und malenden Töchtern, deren eine, Emilie, mit Professor Reinbeck verheirathet war und ihr Haus, wo auch ihr Vater wohnte, zu einem reizvollen Stelldichein der Stuttgarter Schöngeister jener Tage zu machen wußte.

Lenau wurde schnell ein Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit, besonderer Auszeichnung für alle diese Geister; er imponirte durch sein ganzes Auftreten; die Mädchen und jungen Frauen konnten sich dem magischen Eindrucke seiner Person nicht entziehen; es geisterte immer in seinem Gesicht, und die bleiche Melancholie stellte darin gluthäugig ihre stummen Fragen. Das gefiel ihm. Er wurde wieder lebensfroh, dampfte vergnügt seine lange Pfeife, die er auch in Gesellschaft nicht aus dem Munde nahm, und spielte die ihm liebsten Weisen auf seiner Geige, ohne die er nicht sein konnte.


  1. Emile Carrey, der monatelang zur Zeit der Ernte unter den Seringueiros gelebt hat und dessen Reisewerke, bei Michel Levy Frères erschienen, als sehr interessante Lectüre empfohlen werden können.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_011.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)