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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Ich gleichfalls,“ fiel Osten ein. „Es wäre unverantwortlich, wenn wir Ihnen nicht bis zum Dampfer das Geleite gäben.“

„Wir gehen Alle mit an Bord,“ entschied der Officier, ein Vorschlag, der mit stürmischer Acclamation aufgenommen wurde, aber Der, dem er galt, zeigte sich nichts weniger als dankbar dafür. Paul protestirte anfangs lachend, dann ernster und verbat sich zuletzt entschieden die beabsichtigte Begleitung. Einige der Herren machten bereits Miene, das übel zu nehmen, als Bernardo sich in das Mittel legte.

„Laßt ihn gehen!“ sagte er. „Ihr seht es ja, er steuert mit vollen Segeln in das Abenteuer hinein und gönnt uns nicht den geringsten Antheil daran. Wir sind ihm lästig bei diesem Rendezvous auf dem Dampfer; denn man wird uns doch nicht einreden wollen, daß diese gemeinschaftliche Abreise eine zufällige ist.“

Paul zog die Stirn kraus, und seine Stimme klang sehr scharf und bestimmt, als er erwiderte:

„Ich begreife nicht, wie Du dazu kommst, an meinen Worten zu zweifeln. Es ist hier weder von einem Abenteuer noch von einem Rendezvous die Rede, und ich bitte Dich ernstlich, mich und Frau von Hertenstein mit solchen Voraussetzungen zu verschonen.“

„Ich lege Euch Beiden meine allertiefste Hochachtung zu Füßen,“ spottete der unverbesserliche Bernardo. „Du scheinst die Sache von der sentimentalen Seite zu nehmen und vorläufig noch aus der Ferne anzubeten. Jedenfalls ist der Mondscheinroman, der Dich da auf dem Meere erwartet, von einer beneidenswerthen Romantik. Ich wünsche Dir alles Glück dazu.“

Paul wandte sich in sichtbarer Verstimmung ab und zu den Anderen, welche ihn jetzt von allen Seiten umdrängten. Abschiedsworte und Händedrücke wurden gewechselt, Neckereien geflüstert,und man gab den Scheidenden nicht eher frei, als bis vom Dampfer das erste Glockenzeichen herübertönte. Jetzt endlich riß Paul sich los und sprang in die Gondel, von wo er den Zurückbleibenden noch einen letzten Gruß zuwinkte.

Er athmete unwillkürlich auf, als das Boot ihn hinaustrug und das ruhige Mondlicht ihn umfing. Um keinen Preis wäre er auf dem Dampfer in Begleitung der ausgelassenen Gesellschaft erschienen, in der er sich bisher so wohl befunden und die ihm heute zum ersten Male lästig geworden war. Er wußte, welcher Magnet sie dorthin zog, und empfand dieses Herandrängen als eine Tactlosigkeit, die er auf jeden Fall verhüten wollte.

Schon nach wenigen Minuten legte das Boot an der Schiffstreppe an, und der junge Mann stieg rasch und leicht hinauf, während der alte Diener langsamer folgte. Der größte Theil der Passagiere befand sich bereits an Bord, aber noch dachte Niemand daran, die heißen, dumpfigen Kajütenräume aufzusuchen; die herrliche Mondnacht hielt noch Alles auf dem Verdecke fest. Doch vergebens durchforschte Paul die plaudernden Gruppen, die einzelnen Gestalten, die sich hier und da niedergelassen hatten; vergebens stieg er selbst in den Salon der Kajüte hinab, der augenblicklich ganz leer war. Die eine Gestalt, welche er suchte, war und blieb unsichtbar; Frau von Hertenstein hatte sich jedenfalls schon zurückgezogen und kam vermuthlich erst morgen früh beim Landen wieder zum Vorschein.

Sehr verstimmt und mißmuthig begab sich der junge Mann endlich wieder auf das Verdeck und ließ sich dort auf einer Bank nieder. Soeben wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben; rasselnd lösten sich die Ketten; die Maschine begann zu arbeiten, und das Schiff glitt langsam an der Stadt vorüber. Noch einmal tauchte die Piazzetta auf mit ihrem strahlenden Lichtglanze und ihrem Menschengewoge; noch einmal grüßten die Thürme und Paläste im Mondenlichte herüber. Einige Minuten lang stand das Bild in voller Klarheit da; dann begann es allmählich zurückzuweichen, während der Dampfer zu schnellerer Fahrt einsetzte und seinen Cours nach Norden nahm.

Auf dem Verdecke wurde es nach und nach stiller und einsamer. Die Passagiere suchten, Einer nach dem Andern, die Schlafräume auf; auch Paul Werdenfels erhob sich jetzt in der gleichen Absicht, als er auf einmal dicht an der Kajütentreppe wie gefesselt stehen blieb. Nicht weit von ihm, im hinteren Theile des Schiffes, stand ganz allein eine Dame, die er auf den ersten Blick erkannte, obgleich sie ihm den Rücken zuwandte. Sie mußte erst im Momente der Abfahrt herauf gekommen sein und völlig unbemerkt jenen Platz aufgesucht haben. Der junge Mann machte eine rasche Bewegung dorthin, hielt aber plötzlich inne. So wenig die Schüchternheit sonst zu seinen Fehlern gehörte, hier empfand er doch eine gewisse Scheu, sich zu nahen. Es lag etwas Unnahbares in dieser hohen schwarzgekeideten Gestalt, die da so einsam an der Brüstung lehnte und in das Meer hinausblickte. Das Geräusch der Schritte hatte sie jedoch aufmerksam gemacht; sie wandte sich um, und das Mondlicht fiel voll und klar auf ihre Züge.

Es war ein Antlitz voll ungewöhnlicher Schönheit, das aus dem schwarzen, leicht um das Haupt geworfenen Schleier hervorblickte, aber es sprach ein eigenthümlicher, fast strenger Ernst daraus, der in dem Gesichte einer so jungen Frau wohl befremden konnte. Vielleicht war es der Nachhall jenes schweren Verlustes, von dem die Trauerkleider erzählten, vielleicht auch der gewöhnliche Ausdruck dieser Züge, die bei aller Zartheit der Linien doch keine Weichheit zeigten. Auf der weißen Stirn und um die rosigen Lippen lag im Gegentheil ein Zug energischer Willenskraft, und so schön die braunen Augen auch waren, die sich unter den langen Wimpern aufschlugen, sie blickten so kühl und ernst, als könnten sie niemals in Leidenschaft aufflammen. Das Haar verschwand fast ganz unter dem Schleier, welcher Kopf und Schultern bedeckte, aber Paul kannte dieses wundervolle, leuchtende Goldbraun, das sich in den dunklen Falten barg; er hatte es im hellen Tageslichte bewundert.

In dem Gesichte der jungen Frau zeigte sich eine leichte Ueberraschung, als sie den Reisegefährten erblickte.

„Sie hier, Herr von Werdenfels?“ fragte sie. „Sie sind gleichfalls auf der Rückreise nach Deutschland?“

Paul verneigte sich bejahend.

„Ich ahnte nicht, daß mir auf dieser Fahrt das Glück beschieden würde, Ihr Reisegefährte zu sein, gnädige Frau. Es war mir nicht vergönnt, Sie noch einmal zu sehen. Sie waren ausgegangen – wie man mir sagte.“

Es lag eine gewisse Empfindlichkeit in den letzten Worten, Frau von Hertenstein nahm jedoch keine Notiz davon. Sie ließ das „wie man mir sagte!“ unerörtert und erwiderte ruhig:

„Ich habe Ihre Abschiedskarte erhalten, nahm aber an, daß Sie nach Rom gehen würden. Es war ja wohl Ihre Absicht, den Winter dort zuzubringen?“

„Ich hoffte es wenigstens, aber ich erhielt vor einigen Tagen Nachrichten aus der Heimath, die mich unerwartet zurückrufen.“

Paul von Werdenfels war inzwischen näher getreten und stand jetzt neben der jungen Frau. Sie befanden sich allein auf dem Verdecke, welches die letzten Passagiere soeben verlassen hatten. Ruhig, mit kaum sichtbarer Bewegung, glitt der Dampfer dahin; kein Windhauch regte sich, und aus dem Meere, das in tiefer Ruhe dalag, spann die Mondnacht ihren geheimnißvollen Zauber. Der Vollmond erfüllte Alles ringsum mit seinem geisterhaften Glanze und tauchte Himmel und Meer in eine weiße träumerische Lichtfluth. In seinen Strahlen flossen die Wellen wie leuchtende Silberströme dahin, und in den Furchen, die das Schiff zog, sprühten und tanzten Millionen von Silberfunken. Weiter hinaus woben Nebel und Mondesstrahlen ihre leichten duftigen Schleier um die Ferne, aber an dem dunklen Horizont stand noch deutlich erkennbar die Stadt, wie eine leuchtende Fata Morgana, die auf den Wellen zu schweben schien und langsam immer weiter und weiter zurück wich. Allmählich begannen sich die Züge dieses strahlenden Nachtgemäldes zu verwischen; die Linien wurden undeutlicher und nebelhafter, und die Hunderte von Lichtern flossen in einen engen Kreis zusammen, der mit jeder Minute enger ward.

„Ein echtes Märchenbild!“ sagte Paul halblaut. „Und wie ein Märchen entschwindet es auch den Blicken.“

„Der Anblick hat in der That etwas Märchenhaftes,“ stimmte Frau von Hertenstein bei. „Ich kenne nichts Aehnliches in unseren deutschen Städten.“

„Sie leben also in Deutschland, gnädige Frau?“ fragte der junge Mann, hastig den gebotenen Anknüpfungspunkt ergreifend. „Ich wußte allerdings schon bei unserer ersten Begegnung, daß ich eine Landsmännin begrüßte, aber Sie sprachen das Italienische mit so vollkommener Reinheit, daß ich auf einen jahrelangen Aufenthalt in Italien schloß.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_003.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2023)