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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

wo der Gegensatz des kurzen Seins und des langen Nichtseins leise austönt, wo das Herz sich selber findet im Gefühle einer unermeßlichen Gemeinschaft. Unbewußt nehmen wir den Hut vom Haupte, obwohl der freie Himmel über uns liegt – eine geheime Andacht erfaßt uns. Nicht Einer von all den Menschen, deren Erinnerung hier bewahrt wird, ist uns jemals begegnet, und dennoch theilen wir die tausend Träume, Hoffnungen und Schmerzen, die niedergelegt sind in dieser Waldeinsamkeit.

Schon in uralter Zeit galt bekanntlich in den Bergen die Sitte, das Gedächtniß der Todten durch sogenannte Rê-bretter zu ehren, indem man an den Bäumen jene langen schmalen Bretter befestigte, auf welchen die Leiche zu Grabe getragen worden war. Rê bedeutet nämlich den Leichnam, wie es schon im Parcival heißt: „Gebalsamt ward sein junger Re“; die Inschrift auf solchen Denkmälern aber erbat in der Regel nur ein kurzes Gebet für den Verstorbenen. Noch heute hängt das Volk an diesem Gebrauche; aus ihm ist auch die schöne Sitte der Martertafeln hervorgewachen, und dieser Gedanke ist es, der die Stätte geschaffen hat, an welcher wir weilen.

Es liegen keine Todten hier, aber jedes dieser Kreuze, die ganze Ruhe des Ortes ist dem Gedächtniß der Todten geweiht, und ein Stück Weltgeschichte schläft in diesem Bergesfrieden. Der Eine, dem dieses Kreuz gewidmet ist, fiel in den wilden Tagen von Custozza; von seinen grünen Almen war er hinabgestiegen in die heiße lombardische Ebene; der Andere war gefallen an dem Bluttage von Königsgrätz, und den Dritten hatte ein Stein zerschmettert in dem großen Tirolerkriege von 1809. Wie viel Menschenschicksal, wie viel Sturm ist aufgehäuft in dem stillen Waldeswinkel!

Am grünen Baume hängt ein Weihbrunnkessel; in der Nähe rauscht ein Quell; die kleine Capelle, die am Bergrand steht, ist mit Votivbildern überfüllt.

Ich aber grüßte sie Alle, deren Namen hier standen , mit einem tiefen Herzensgruße, als ich langsamen Schrittes zur Stadt herniederstieg. Die frommen Glocken läuteten; man hörte das Rauschen des Inn, wie er mit jugendlichem Ungestüm und grünen Wellen dahinschoß; von der Schießstatt knatterten die Büchsen, und droben ragten im Abendgolde stumm und groß die Zinnen von Ambras. – Diva Philippina!




Deutsches Vereinsleben in Paris.

Von Max Nordau

Wer jemals auch nur einen Tag in Paris verbracht hat, der kennt den Boulevard Montmartre mit dem schmalen, von zwei Säulen gebildeten Peristil der Façade des Variétéstheaters und dem „Passage des Panoramas“, dessen zahlreiche und etwas labyrinthische Gänge einige der vornehmsten Läden von Paris enthalten. Mehrere dieser Gänge münden in die mit dem Boulevard parallel laufende Rue St. Marc, ein schmales, holperig gepflastertes, nicht gerade sehr vornehmes Gäßchen, das sich besonders durch seinen Reichthum an möblirten Hôtels von zweifelhaftem Rufe auszeichnet.

Diese sonst so stille Rue St. Marc war vor wenigen Wochen der Schauplatz lärmender Auftritte, welche ihrem Namen für einen Augenblick eine gewisse Berühmtheit verliehen. Drei oder vier Abende hinter einander versammelten sich hier mit Geschrei und Getümmel mehrere hundert Individuen, theils Mitglieder eines französischen Vereins, der sich „Patriotenbund“ nennt, theils Janhagel, wie er sich in Großstädten überall da hindrängt, wo Unordnungen zu erwarten sind – in der ausgesprochenen Absicht, das Local des deutschen Turnvereins, von dessen beiden Eingängen der eine in der Rue St. Marc lag, zu erstürmen und den Angehörigen des Vereins die Knochen zu zerschlagen. Dazu kam es nun freilich nicht; die Polizei legte sich in’s Mittel, allerdings nicht etwa in der Weise, daß sie das Straßengesindel aus einander jagte, sondern indem sie dem deutschen Turnverein die Abhaltung seiner Versammlungen verbot.

Dieses Einschreitens einer wohlwollenden Obrigkeit hätte es übrigens gar nicht bedurft; denn auf die erste Kunde von dem gegen ihn geplanten Angriffe that der Verein, was ihm seine Würde und das Bewußtsein seines guten Rechts geboten: er wich einem Zusammenstoß, bei dem keine Ehre zu holen war, vernünftig aus, indem er zuerst freiwillig seine gewohnten Abendzusammenkünfte aufgab und dann ohne Widerstand das Local räumte, aus dem der „Patriotenbund“ ihn mit Anwendung von Gewalt verdrängen wollte.

Diese Vorfälle, welche wieder einmal die in Deutschland nur mit Widerstreben und Vorbehalt zugegebene Thatsache aufdeckten, daß der Deutschenhaß in Frankreich auch heute noch so tief und leidenschaftlich ist, wie vor zwölf Jahren, haben die Aufmerksamkeit des Publicums in der Heimath auf das deutsche Vereinsleben in Paris gelenkt und rechtfertigen wohl einige Mittheilungen über das letztere.

Um von den ungeheueren Verhältnissen des Londoner Lebens ein recht anschauliches Bild zu geben, pflegt man zu sagen, daß die Stadt mehr Schotten enthalte als Edinburg, mehr Irländer als Dublin, mehr Katholiken als Rom und mehr Juden als ganz Palästina. Nach demselben Muster könnte man, um der Vorstellung des Lesers die Bedeutung des deutschen Elements in der Pariser Bevölkerung besonders faßlich zu vergegenwärtigen, behaupten, Paris nehme unter den deutschen Städten den fünfzehnten Rang ein, da es mehr deutsche Einwohner zählt als Chemnitz, Nürnberg, Elberfeld oder Magdeburg. Genau freilich ist die Ziffer nicht bekannt, und sie dürfte selbst amtlich schwer festzustellen sein.

Gelegentlich der letzten Volkszählung, die im December 1881 stattfand, enthielten wohl die Zählblättchen eine besondere Rubrik für die Nationalität, aber viele Deutsche bekannten sich aus beklagenswerther Feigheit nicht als solche, sondern ließen die betreffende Rubrik entweder unausgefüllt oder gaben sich für Oesterreicher, Schweizer oder Amerikaner aus, und die zahlreichen naturalisirten Deutschen schrieben sich natürlich sammt und sonders als Franzosen ein. Die durch die Volkszählung erlangten Resultate sind also nicht durchaus zuverlässig. An Zahlenangaben fehlt es nicht, doch beruhen dieselben meist auf persönlichen Schätzungen und sind durch allerlei Nebenabsichten beeinflußt.

Um ihren Lesern das Gruseln vor einer angeblichen Ueberschwemmung Frankreichs mit Deutschen beizubringen, haben einige Pariser Blätter behauptet, die Zahl der Deutschen in Paris betrage 300,000. Ungeschickte deutsche Beschwichtiger erwiderten darauf, Paris beherberge nicht mehr als 25,000, höchstens 30,000 deutsche Einwohner. Auf Grund der Volkszählungsdaten kann man aber mit Berücksichtigung der angeführten Fehlerquellen die Zahl der deutschen Reichsbürger auf 70,000, die der Oesterreicher, Schweizer, Deutschrussen, Deutschamerikaner und Elsässer, deren Muttersprache Deutsch ist, auf 35,000, die Gesammtzahl der deutschsprechenden Einwohner von Paris auf mindestens 105,000 veranschlagen. Es giebt ganze Viertel – so namentlich die Faubourgs Montmartre, Saint Denis und Saint Martin – wo man auf der Straße und in den öffentlichen Localen mindestens so viel deutsch wie französisch sprechen hört.

Die deutsche Colonie, durch die Austreibung der Deutschen im Kriegsjahre gewaltsam zersprengt, hat sich seit 1871 allmählich wieder zusammengefunden und ist gegenwärtig sogar zahlreicher als vor dem Kriege. Aber ihre Zusammensetzung ist heute eine wesentlich andere als damals. Vor 1870 waren in der Pariser deutschen Colonie alle Classen der Gesellschaft gleichmäßig vertreten. Viele vornehme und reiche Familien nahmen ihren Winteraufenthalt in Paris, gaben Feste und Empfänge und zählten zu den Angelpunkten, um welche sich das Pariser Leben drehte. In der Börsen- und Handelswelt aber war das deutsche Element geradezu tonangebend. Ferner wirkte an den wissenschaftlichen Anstalten ein erstaunlich bedeutendes Contingent deutscher Gelehrten und Schulmänner und selbst in der Journalistik begegnete man einer nicht geringen Anzahl deutscher Namen, wie denn beispielsweise der angesehene „Temps“ bei seiner Gründung reichlich zur Hälfte von deutschen Federn geschrieben wurde.

Für deutsche Maler und Musiker war Paris ein Eldorado, das Gold und Ruhm in Fülle bot. Aber auch der deutsche Handwerksgeselle wanderte gern an’s Ufer der Seine, um Schliff

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_866.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2023)