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verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

der Unterrichtszeit um drei bis vier Stunden per Woche. Und diese können mit Leichtigkeit erspart werden, wenn man den bloßen Gedächtnißkram auf das nothwendigste Maß beschränkt, wenn man das Hauptgewicht mehr auf Anregung, auf geistige Durchdringung des Gebotenen, als auf Fülle der Einzelheiten legt. Einzelne Schritte sind auch hier schon in dem reformirten Lehrplan geschehen, aber es muß noch mehr gethan werden. In fast allen Lehrgegenständen kann hier eine Beschränkung eintreten. Die Unterrichtsverwaltung hat z. B. schon in dem Lehrplan für die Gymnasien den Unterricht im Lateinischen und im Griechischen wesentlich reducirt. Dies kann natürlich nur durch eine Aenderung in der Methode erreicht werden.

Das sinnlose Eindrillen lateinischer Phrasen in Extemporalien und Aufsätzen kann sehr wesentlich beschränkt werden; wir meinen sogar, daß die Aufsätze ohne jeden Schaden völlig fortbleiben können, und dadurch würde ein wesentlicher Theil der häuslichen Arbeitszeit in den höheren Classen fortfallen. Aufgabe der Schule ist es, die Jugend in den ewig erfrischenden und erhebenden Geist des klassischen Alterthums einzuführen, durch Lectüre und geistige Durchdringung der klassischen Meisterwerke unserer Jugend Sinn für Ideales und Erhabenes einzuflößen: in dieser Hinsicht kann der Nutzen des Unterrichts in den classischen Sprachen gar nicht hoch genug angeschlagen werden. Dieses Ziel aber wird nicht erreicht, wenn man die großartigen Werke eines Plato, Thucydides, Xenophon, eines Livius, Horaz, Virgil fast ausschließlich zum Einpauken grammatischer Regeln benutzt. Und wozu in aller Welt ist es nöthig, in einer todten Sprache Aufsätze anfertigen zu lassen, bei deren Lectüre sich doch ein Cicero im Grabe herumdrehen würde? Es ist einzig und allein das Element der angelernten Phrase, dem man dadurch zur Herrschaft verhilft, ganz abgesehen davon, daß man durch diese trockene Art dem Schüler den Geschmack an den großen classischen Autoren gründlich verdirbt. Die Grammatik ist nur ein Mittel; sie zum Selbstzwecke zu erheben, wie das leider nur allzu oft geschieht, ist der Gipfel der Verkehrtheit.

Aehnliches gilt von dem geographischen und historischen Unterricht. Auf den Gedächtnißkram hier gänzlich zu verzichten, ist ja ohne Zweifel unmöglich. Aber das Uebel wird viel leichter überwunden, wenn die zu ertheilenden Anleitungen mit einem anschaulichen und anregenden Unterricht über die großen Gesetze, denen das Leben der Erde unterworfen ist, verbunden werden, als wenn der Gedächtnißkram zum fast ausschließlichen Object des Unterrichts gemacht wird.

Weiß der Schüler über die wunderbare Gestaltung der Erdoberfläche, über die Gesetze der Bildung und Entwickelung derselben, über alle die großen Resultate, welche namentlich die vergleichende Erdkunde in neuerer Zeit errungen hat, Bescheid, dann wird er in diesem gewaltigen Bilde auch leichter die Lage und Richtung der einzelnen Linien und Punkte im Gedächtnisse behalten, als wenn man ihm die letzteren einzuprägen sucht, ohne ihm den Anblick des herrlichen Gemäldes selbst zu zeigen. Versteht der Lehrer, den Schüler „in den Geist der Zeiten zu versetzen“, ihm den großen Entwickelungsgang der Geschichte klar zu machen, so wird dieser auch die einzelnen Erscheinungen leichter im Kopfe festhalten. In der Einprägung der letzteren kann ohnehin gerade im historischen Unterricht ein erhebliches Minus eintreten.

Es wird hier noch immer viel zu viel Gewicht auf das Auswendiglernen einzelner Daten und Jahreszahlen gelegt: ja wir kennen Lehranstalten, wo dies den ausschließlichen Gegenstand des historischen Unterrichts bildete – und bildet. Das ist grundfalsch: denn das Ganze ist eben nicht blos die arithmetische Summe seiner Theile: es steht über den Theilen. Man kann alle einzelnen Theile im Gedächtniß haben und doch das Ganze nicht verstehen. Es ist, als ob die moderne Entwickelung der historischen Wissenschaft an dem geschichtlichen Unterrichte spurlos vorübergegangen Wäre. Während die historische Wissenschaft mit Recht immer mehr ihre Aufgabe darin erblickt, dem Culturfortschritt der Menschheit in seinen einzelnen Phasen nachzugehen und die diplomatische und Kriegsgeschichte als das zu betrachten, was sie thatsächlich ist, – als Nebensache, wird diese Nebensache im historischen Unterrichte noch immer in ganz ungebührlicher Weise bevorzugt, Auswendiglernen von Schlachtendaten, genaueste Kenntniß aller feindlichen Berührungen der Völker unter einander bildet in den Geschichtsstunden unserer Lehranstalten noch immer den Hauptgegenstand; der große Fortschritt, den die Menschheit durch die friedlichen Berührungen der Völker unter einander, durch den Austausch ihrer geistigen und culturellen Erzeugnisse gemacht hat, bleibt fast unberührt.

Und doch hat dieses Letztere gerade den nicht zu unterschätzenden Vortheil, daß es dem Schüler Interesse einflößt, während ihn die mechanische Einprägung jener Aeußerlichkeiten langweilt. Und Langeweile ist der Tod aller Pädagogik.

Was würde man wohl von einem Naturforscher sagen, der die Wirkungen der Elektricität nur nach den zerstörenden Wirkungen des Blitzes beurtheilen wollte? Und in der Geschichte will man das Wesen der großen Entwickelung der Menschheit aus den krampfhaften Evolutionen, wie sie in den Kriegen zu Tage treten, erkennen?

Wir können uns mit diesen flüchtigen Andeutungen begnügen, denn wir wollen kein System, sondern Aphorismen geben, die ein Jeder mit Leichtigkeit aus seiner eigenen Erfahrung ergänzen und erweitern mag. Für unsern Zweck genügt das Gesagte. Tritt eine Aenderung der Methode in der angegebenen Richtung ein, so kann nicht nur die Anzahl der Unterrichtsstunden vermindert, sondern auch der auf häusliche Arbeiten zu verwendende Zeitaufwand erheblich reducirt werden. Der Geist wird dadurch nicht benachtheiligt, sondern frischer und zu selbstständigem Denken geeigneter werden: und darauf kommt es an. Dem Körper aber wird auf diese Weise das ihm gebührende Recht werden.

Und Gesundheit ist nächst der Mannesehre das höchste aller Güter und die Vorbedingung alles Glücks. Sorgen wir dafür, daß diese unsern Kindern erhalten werde! Wir sind in Gefahr, sie ihnen zu rauben. „Die Hälfte aller zukünftigen Aerzte und Strafrichter, Kranken- und Gefangenwärter,“ sagt Hartwich, „muß umgeturnt und umgesprungen, umgelaufen, umgerungen, ummarschirt und umgesungen werden, und die Hälfte der sich dann entvölkernden Hospitäler, Gefängnisse, Augenkliniken und Irrenhäuser muß umgestaltet werden zu ‚Hochschulen für Volksgesundheitslehre‘ und zu ‚gymnastischen Seminarien‘, in denen unsere ‚Jugendbildner‘ einen Cursus durchzumachen und ein theoretisches und praktisches Examen abzulegen haben.“

Georg Winter.


Bilder von der Ostseeküste.
Mit Abbildungen von Robert Aßmus.
2. Land und Leute in Livland.

Wer aus dem deutschen Mutterlande in die fernab liegende baltische Colonie geräth, hat auf die Dauer damit zu thun, sich in dem Kunterbunt der Farbenmischung der dort wohnenden Völkerstämme zurecht zu finden. Viel Stammverwandtes heimelt ihn auf den ersten Blick an, und die Summe der unverkennbaren Familienzüge hilft ihm hinweg über manche unschöne querläufige Linie, die von Zeit zu Zeit das anmuthende Gesicht zur Fratze zu verzerren droht. Je eingehender er in der Folge Notiz nimmt von dem Dutzend heterogener Elemente, aus denen sich das baltische Leben zusammensetzt, je eifriger er dem Werdegange baltischer Cultur nachspürt – um so leichter verwindet er die unliebsamen Schrecknisse, um so ausgesprochener wächst ihm mit zunehmendem Verständniß auch der Geschmack an der Eigenart landesüblicher Lebensweise.

Die wechselvollen Geschicke der Ostsee-Provinzen, welche dem Heimbürtigen ein interessantes Capitel europäischer Universalgeschichte sind, weisen zu wenig großartige, bedeutende Züge auf, als daß sie, gegenüber erhebenderen Episoden, dem Fernerstehenden nicht wie in Nebel zerrinnen sollten. Nicht darauf einzugehen, nur auf sie hinzuweisen gestattet mir der Raum dieser flüchtigen Skizze. Die Geschichte der baltischen Provinzen erklärt einmal das bunte Gemisch, dann auch das bescheidene Niveau colonialer Culturentwickelung. So folgten hier in bunter Reihenfolge auf einander: Zank und Hader zwischen Episcopat und Orden, blutige

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verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1882, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_830.jpg&oldid=- (Version vom 26.8.2023)