Seite:Die Gartenlaube (1882) 816.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

einem tückischen Elemente hat sie gestählt. Besonders die Friesinnen standen von jeher und stehen noch heute mit vollstem Rechte im Rufe großer Schönheit. Hoher Wuchs und weiße Haut, blaue Augen und rosige Wangen sind ihre zumeist hervortretenden Vorzüge, die durch derbkräftige und breitschulterige Körperformen keineswegs beeinträchtigt werden. Schon zur Römerzeit war dieses Volk berühmt wegen seines „goldigen Haupthaares“, dessen künstliche Nachahmung in den vornehmen Gesellschaftskreisen der Hauptstadt Rom zum guten Ton gehörte und das selbst einen Kaiser Antoninus zum Anlegen einer blonden Perrücke bestimmte.

Durch alle Wechselfälle der Zeiten wußten die Friesen ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu behaupten, und ebenso hielten sie von jeher auf eine gewisse individuelle Ueberlegenheit der Angehörigen ihrer Rasse; denn wenn bereits das alte friesische Volksrecht aus dem achten Jahrhundert christlicher Aera sich vor allen andern germanischen Gesetzgebungen damaliger Zeit durch das höchste „Wergeld“ auszeichnete, das heißt die Tödtung eines freien Friesen mit der höchsten Geldbuße belegte, so darf auch hierin ein unverkennbares Symptom jenes gesteigerten Selbstbewußtseins, durch welches sich dieses Volk von allen übrigen germanischen Stämmen unterschied, erblickt werden.

Auch die bis auf den heutigen Tag festgehaltene, wenn schon je nach der Verschiedenheit der einzelnen Gegenden mehr oder weniger von einander abweichende nationale Tracht der Anwohner der Zuydersee ist ein Beleg für die zähe Eigenart dieses Volkes und, namentlich bei der in den jetzigen Provinzen Nordholland und Friesland bemerkbaren großen Aehnlichkeit in der äußeren Erscheinung der Menschen, zugleich ein drastischer Beweis für die weiter oben motivirte Annahme, daß der gesammte nördliche Theil der Niederlande einstmals in unmittelbarem Zusammenhange gestanden hat. Erst neuerdings beginnt die erwähnte interessante Volkseigenthümlichkeit hier und da den modernen Nivellirungsbestrebungen zum Opfer zu fallen und namentlich beim männlichen Geschlechte der charakterlosen Tracht der übrigen europäischen Landbevölkerung zu weichen.

Aber noch heute, wie vor Jahrhunderten, herrscht bei den nordholländischen Bäuerinnen die merkwürdige, fast möchten wir sagen, barbarische Sitte, sich am Hochzeitstage das Haar abzuschneiden und sich so ihres schönsten natürlichen Schmuckes zu berauben. Der haarlose Kopf wird dann in eine helmähnliche goldene Haube (sogenannte oorijzer) eingekerkert, und Verzierungen aller Art werden verschwendet, um jenen Act des Vandalismus möglichst abzuschwächen: metallene Stirnbänder und goldene Korkzieher umschließen die Stirn, welche außerdem durch zwei nicht gerade geschmackvolle Zöpfe von schwarzem Pferdehaar verunziert wird, die mit den blonden Brauen und blauen Augen im sonderbarsten Contraste stehen. Dieser Goldschmiedsladen wird dann unter einer zierlichen Mütze versteckt, die aber ihrerseits sofort wieder unter einem riesigen, mit bunten Blumen und Bändern überladenen Hute verschwindet.

Aehnlich wie in Nordholland ist die Tracht der Bäuerinnen im eigentlichen Friesland. Auch sie haben den althergebrachten glänzenden Kopfputz beibehalten, und noch jetzt umfängt der Goldhelm ihr Haupt, nur daß letzteres hier von einer Mütze mit ungeheuren Spitzenbarben eingerahmt wird.

Besondere Eigenthümlichkeiten in Bezug auf nationales Costüm bieten die von der Zuydersee umschlossenen kleinen Eilande, von denen hier nur der nördlich von der Ausmündung des Y gelegenen Insel Marken um deswillen gedacht sein möge, weil die äußere Erscheinung ihrer Bewohner merkwürdiger Weise in fast gar nichts an die Bekleidung der übrigen Nachbarschaft erinnert. Auch hier ist die Tracht der Männer die bei weitem einfachere: auch sie ist übrigens schon im Verschwinden begriffen, wozu vermuthlich die Nähe der Hauptstadt Amsterdam das Ihrige beitragen mag. Gleichwohl ist der Markener noch heute regelmäßig mit einem Wamms von braunem Tuche mit zwei Reihen Knöpfen, zum Theil aus edlem Metall, Gold oder Silber, auch wohl aus alten Denkmünzen bestehend, bekleidet. Dieses Wamms wird in ein Beinkleid gesteckt, welches, weit und bauschig, kaum über das Knie hinabreicht und die Wade, die ihrerseits durch dicke, schwarzwollene Strümpfe geschützt wird, unbedeckt läßt: bei Fischern tritt als Untergewand noch ein rothes Tuchhemde hinzu. Die Füße stecken in weißen Holzschuhen oder auch in Schuhen, die mit türkischen Pantoffeln eine gewisse Aehnlichkeit haben, während als Kopfbedeckung im Sommer eine schwarze Kappe oder ein kleiner brauner Filzhut, im Winter aber eine niedrige Pelzmütze benutzt wird.

Ungleich complicirter und bunter als die der Männer ist die Kleidung der Markener Frauen. Die Unsitte des Haarabschneidens herrscht hier nicht, sondern die Marknerin läßt der natürlichen Zierde ihres Hauptes ihr ungeschmälertes Recht. Gold und Schmucksachen sind wenig bemerkbar, wohl aber eine gewisse Vorliebe für auffallende und grelle Farben. Als Kopfbedeckung dient eine ungeheure weiße, fast einer Bischofsmütze vergleichbare Haube, darunter ein brauner Stoff, welcher den Spitzen und Stickereien gestattet, ihre Arabesken wirksam hervortreten zu lassen. Unter dieser Mütze hervor, zu beiden Seiten des Gesichts, quellen zwei riesige Zöpfe natürlichen blonden Haares, welche, in Korkzieherform geflochten, bis mitten auf die Brust niederfallen, während auf der Stirn die nach vorn gekämmten Haare in gerader Linie oberhalb der Augenbrauen abgeschnitten sind, genau so, wie es die europäische Mode noch vor wenigen Jahren für das schöne Geschlecht insgemein vorschrieb. Die eigentliche Kleidung besteht aus einem ärmellosen Leibchen und einem Rock, beide von verschiedenem Stoff und Farbe, wobei sich jedoch Roth eines entschiedenen Vorzugs erfreut. Namentlich das Leibchen ist mit rothen Handstickereien reich verziert: die Aermel aber, welche einem Unterkleide angehören, zerfallen in zwei ungleiche Theile, deren einer, mit senkrechten rothen oder schwarzen Streifen, oberhalb des Ellenbogens aufhört, während der andere, dunkelblau, sich bis zum Handgelenke hinabzieht. Auch der eigentliche Rock selbst zerfällt in zwei ungleiche Hälften. Der längere, obere Theil stellt eine Art Rockschoß von heller Farbe mit schwarzen Streifen dar, wogegen das kürzere, untere Stück von dunkelblauem Stoffe ist und in einem doppelten braunrothen Streifen endet. Unsere sachverständigen Leserinnen werden zugeben, daß diese Tracht, deren Herrschaft sich, wie gesagt, auf die kleine Insel Marken beschränkt, eine ebenso eigenthümliche wie malerische genannt zu werden verdient; zu bemerken ist noch, daß dieselbe - wie dies vielfach im Umkreise der Zuydersee üblich ist - von allen Altersclassen der Bevölkerung, von den Kindern bis zu den Greisinnen, gleichmäßig angelegt wird.

Kehren wir jedoch nach dieser kleinen Abschweifung auf das Gebiet der Völker- und Costümkunde nochmals zur Zuydersee selbst zurück! Daß dieselbe in ihrem gegenwärtigen Umfange einen Flächenraum von nahezu 60 Quadratmeilen gleich 500,000 Hectaren, also genau den zehnten Theil des ganzen Königreichs der Niederlande bedeckt, wurde schon weiter oben bemerkt. Veranschlagen wir den ehemaligen Flevosee auf etwa 140,000 Hectaren, so ergiebt sich, daß ungefähr 360,000 Hectaren Land, das heißt ein Gebiet von der Größe der jetzigen Provinz Friesland, im Laufe der Jahrhunderte an das Meer verloren gegangen sind. Seit einem vollen Menschenalter beschäftigt unsere niederländischen Nachbarn die naheliegende Frage, ob und auf welchem Wege dieses bedeutende Territorium, entweder ganz oder wenigstens zum Theile, der menschlichen Cultur zurückzuerobern sei. Seit im Jahre 1849 ein holländischer Ingenieur zuerst einen flüchtigen Entwurf veröffentlichte, der die Zuydersee in ihrer gesammten Ausdehnung abdämmen und trocken legen wollte, ist über diesen Gegenstand unendlich viel gesprochen und geschrieben worden. Eine Anzahl Sachverständiger erwog die Schwierigkeiten des Unternehmens; Andere hoben das Wünschenswerthe der Sache hervor; während der Eine die Möglichkeit einer Bändigung der Wasserfläche prüfte, untersuchten Andere die Beschaffenheit des Bodens. Die Hydrographie gab Aufschlüsse durch ihre wissenschaftlichen Aufnahmen; die Wasserbau-Ingenieure begutachteten besonders schwierige Probleme der Technik; Gesellschaften bildeten sich, um sich die Concession zur Ausführung zu sichern - kurz, die Sache begann in Fluß zu kommen. Gleichwohl sollten noch Jahrzehnte verfließen, bevor diese hochwichtige Frage zum Eintritte in ein neues, praktisches Stadium gereift war.

Erst im Jahre 1875 veröffentlichte eine niederländische Staatscommission einen Bericht über die Möglichkeit und das Wünschenswerthe des großartigen Werkes, und bald nachher reichte die Regierung beim Staatsrathe einen Gesetzentwurf, die Trockenlegung der Zuydersee betreffend, ein, der in seinen wesentlichen Punkten von der Volksvertretung gebilligt und angenommen wurde. Seitdem darf das Unternehmen im Princip als gesichert betrachtet werden; die vorbereitenden Arbeiten haben begonnen, und die endgültige

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_816.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2023)