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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Wolke von Staub zog ihr entgegen, und gelbes Wurmmehl stäubte auf ihr schwarzes Schürzchen. Sie legte einige ganz vergilbte, mit einem verblichenen Bande umwickelte Blätter vor mir hin.

„Vielleicht lesen Sie es doch, Herr Baumeister; wenn es hübsch ist, können Sie mir’s erzählen. – Gute Nacht! Die Hausthür bleibt offen; es ist nichts zu stehlen hier. Der Großvater kommt jeden Augenblick vom Taufen zurück,“ setzte sie hinzu, „da will ich daheim sein.“

Ich hörte sie die Treppe hinunter eilen und die Schelle rasseln; dann war ich allein. Ich aß zerstreut zu Abend; denn meine Augen hingen wie gebannt an den alten Blättern; ich zog den von Motten zerfressenen Lehnstuhl an den Ofen, holte das Tischchen mit den Papieren herbei und machte mich daran, mir die Pläne anzusehen, aber über sie hinweg griff ich doch mechanisch nach dem vergilbten Päckchen und begann zu lesen – ich vergaß alles Andere darüber.

Draußen rüttelte der Wind an den Läden, daß es ächzte und unheimlich durch das öde Haus scholl, mir aber war es gar bald nicht mehr öde zu Sinn; denn die, so einstmals hier gewohnt, wanderten wieder durch die Räume, in Leben und Wirklichkeit.

Und hier die einfache Geschichte, wie ich sie später abgeschrieben von den morschen zerfallenden Blättern, um sie meiner Braut auf den Weihnachtstisch zu legen, ein Stücklein Menschenleben aus längst vergangener Zeit:

„,Tu mihi Jova salus
quid mihi faxit homo?

Also stehet geschrieben über der Pfordten dieses Hauses, in welchem ich geboren und gelebet bis itzo, und das ich erst dann verlassen werde, so man mich hinausträgt, ein stilles Weib. Ich weiß, wann ich gestorben, wird ein Lächeln sein um meinen Mund; denn meine Sehnsucht ist sodann gestillet.

Ein schön und herrlich Sprüchlein das obige – ‚Du, Gott, bist mein Heil – was kann der Mensch mir schaden?‘ und dennoch ist lange Zeit verflossen, bis ich es verstehen lernte; denn bitter Leid ist mir widerfahren von den Menschen, so bitter und wehe, daß mein Herze selbst von Gott nichts zu wissen begehrete, dieweilen Er Solches zuließ.

Viel Trübsal und schwer Bedrängniß ward mir zu Theil, so mich jahrelang in dunklen Banden hielt, und als es heller um mich zu werden begunnte, und mein verdüstert Gemüth sich Dem wieder zuwendete, der jeglich Schicksal lenket, da erblickte ich in meinem Spiegelein ein verfallen Antlitz, und graue Haare auf meinem Haupte. Geht manch Einem so! Die Jugend ringet schier ungestüm und trotzig gegen hartes Loos, dann versagen mählig die Kräfte; Demuth und Milde kehren zurück, die so lang fern weileten, und zum Ende wissen wir dankbarlich die Hände zu falten und zu sprechen: ‚Du, Herr, bist mein Heil – was kann der Mensch mir schaden?‘

Darum vermag ich auch itzo ruhig das niederzuschreiben, was mir lange Zeit ein brennend Wehe schuf. Möchte wohl, daß Alle die es leseten, so ich in meines Herzens Leerheit und Bitterkeit wehegethan und so dennoch manch barmherzig und tröstend Wortlein hatten für das einsame herbe Weib, das fremd an ihnen vorüber zu schreiten pflegete. Möge es ihnen dereinsten reich vergolten werden, hienieden und dorten! Und so beginne ich denn in Gottesnamen:

Anno Domini 1699.     

An die fünfzig Jahre sind es her, daß meine Wiege hier im selbigen Zimmer ist geschaukelt worden. An einem Sonntag war es, im August; – Sonntagskinder sollen gemeiniglich Glück haben. Und es hat nicht gefehlet, daß man mir dieses oft genug erzählet und geweissaget hat; Base Wieschen meinte sogar, ein Sonntagskind, das, wie ich, beim Glockenläuten geboren, wisse mehr Dinge, denn andere Menschen, könne sogar verstehen, was die Vögel reden, – die Prophezeiung ist aber nimmer wahr geworden; ah, es giebt wohl Ausnahmen in der Regel.

Von meiner ersten Jugend weiß ich wenig, nur daß es sehr still war in unserem Hause; denn der Hofprediger, mein Vater, war ein finsterer Mann, dessen ernsten Mund ich niemalen habe lachen gesehen, saß stets vertiefet über den Büchern in seinem Studirstüblein, wenn ihn nicht sein geistlich Amt zur Schulen oder Kirchen rief – entsinne mich gar wohl der vielen stillen Stunden in der großen Wohnstube linker Hand mit dem schweren Eichentisch zwischen den Fenstern, dem bunten Kachelofen, dem schmalen Faulbette und dem knisternden Sand auf dem gypsgegossenen Estrich. Allda saß in der tiefgewölbten Fensternische spinnend oder nähend mein Mütterlein und ich zu ihren Füßen, eine Tannennadel an einem Faden gebunden und ein bunt Läppchen in den Kinderhänden, eifrig ihr nachahmend, indessen Base Wieschen, ein alt Weiblein aus der Mutter Sippe, so in unserem Hause Unterkunft gefunden, gar anmuthige oder schauervolle Märlein erzählte.

Die Lippen der Alten verstummeten freilich geschwind, sobald der Vater in’s Gemach trat; der nannte sie ein abergläubisch Weib, das arge Sünde thue und schwerlich droben in Gnaden eingehen werde, bleibe sie bei ihrem Unglauben. Die Alte pflegte dann den Kopf zu senken, um ihn, sobald der Vielgestrenge zur Thür hinaus war, desto sieghafter zu erheben.

‚Und es ist dennoch wahr,‘ behauptete sie kühnlich, ‚es giebt einen wilden Jäger; es giebt Hexen und Unholde da droben in den Bergen, davon selbst hochgelehrte geistliche Herren nichts hinwegzuspotten vermögen, ob sie gleich mit Bann und Segen, mit Kreuz und Wort dawider schaffen, und wenn ich nur ein Lossickelcken[1] hätt, es könnt auch diesem Hause nicht schaden.‘

Zur Zeit der Sommervacanz, dann ward’s lustig in Haus und Garten, dann kamen eines Abends mit Sonnenuntergang zween schlanke jungfeine Gesellen dahergewandert, bestäubet und heiß, aber mit heller Freude auf dem Antlitz, und die Mutter stund auf der Treppe, und ihr sonst so ernstes Gesicht lachte ihnen entgegen. Aus der Küche duftete es gar lecker nach Safranküchlein in Oel geschmälzet, so das Leib- und Magenessen meiner Brüder war.

Hei! Gab es da eine Lust für mich, die ich sonst jeder Jugendfreude entbehrete! Wenn die Söhne dann vom gestrengen Herrn Vater scharf examiniret waren, wenn das Mutterauge sich satt an ihnen gesehen und die Gute sich nun emsig mühete, die zerrissenen Kleider zu flicken und neue hinzuzuschaffen, o, dann zogen wir hinaus in das schattige Gärtlein, hinaus in die grünen Buchenwälder, so weit, daß uns nirgend mehr ein Mensch begegnete, und nur noch dann und wann ein flüchtend Reh vor uns durch das Gestrüppe brach, oder hoch oben in den Lüften ein Raubvogel schrie. Brauchte auch nimmer bang zu sein vor weiten Wegen; wenn meine Füße müd, so nahmen mich die Brüder empor und hoben mich auf ihre in einander geschränkten Arme. ‚Englein tragen‘, also nannten wir es, und da saß ich dann zwischen ihnen, einen grünen Kranz auf den blonden Zöpfen, einen Strauß Waldblumen in der Hand, schier wie eine Prinzessin in der Sänfte, und hüben und drüben lachten mich die liebjungen Augen der Beiden an.

Ein Paar schmucke Gesellen fürwahr, schlank wie die Tannen und biegsam wie die Birken, die in unserem Walde zwischen den Buchen allerorten stehen! Beide brav, Beide herzlieb, aber Conradus blieb mir jederzeit der Beste, der Schönste und Bravste. War er gleich stiller und neckete nicht so viel, konnte er gleich nicht so herzfröhlich lachen, so hat doch allezeit ein Wörtlein aus seinem Munde mich froher gemacht, denn die zärtlichsten Kosenamen, mit denen Walther sein Schwesterlein schier zu überschütten pflegte.

Mein liebster Aufenthalt aber war der fürstliche Lustgarten. Stundenlang konnte ich da in irgend einem heimlichen Winkel liegen, und blinzelnd durch dichtes laubiges Geäst auf das Schloß hinschauen, das gleichwohl gar hochmüthig mit seinen stolzen Fensterreihen an mir vorüber zu blicken schien. All was dorten geschah und geschehen mußte, wie ich es in meiner kindlichen Phantasie ausmalete, beschäftigte mich lebhaft, und kam mein Vater vom Schlosse zurück, allwo er wöchentlich zweimalen aufwartete, so wich ich nicht aus seinem Stüblein, bis ich erlauschet, ob er Prinzessin Liselotte gesehen.

Prinzessin Liselotte! Wie oft hab’ ich von ihr geträumt, wie oft stundenlang hinter den Büschen des Schloßberges gehockt, nur um sie rasch vorüberfahren zu sehen. Dann preßte ich die Hände zusammen und hielt den Athem an vor Lust; Schöneres konnt’ es ja nimmer geben in meinen Augen, als das runde, rosige Antlitz unter dem braunen Gelock, so sich nach neuster Mode à la paysanne gar anmuthig um den feinen Kopf bauschte, als die glänzenden tiefblauen Augen und das allzeit fröhliche Lachen um den vollen kleinen Mund. Ei, sie stehet noch heut so deutlich vor mir in dem rothseidnen Schnebbenleibchen, das tief den weißen Hals sehen ließ und sich so gar eng um den schlanken Leib spannete; ich sehe noch das glitzernde

  1. Lossickelcken, eine Art Hausgeist in den Harzbergen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_808.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2023)