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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Blätter und Blüthen.

Literarische Weihnachtsneuigkeiten. Anknüpfend an unsere neuliche Besprechung poetischer Novitäten des Weihnachtsbüchertisches, werfen wir heute im Nachstehenden einen flüchtigen Blick auf besonders beachtenswerthe Neuigkeiten der Prosadichtung.

Dem Herzen unserer Leser am nächsten dürfte das Werk einer ihnen längst vertrauten Dichterin stehen: „Waldblumen“ von W. Heimburg (Leipzig, J. M. Gebhardt’s Verlag). Das ist ein Strauß duftiger Noveletten-Blumen, wie ihn eben nur die liebenswürdige Verfasserin von „Lumpenmüllers Lieschen“ in dem Garten ihrer Dichtung zu pflücken vermag – acht jener zart gewobenen, bei aller Einfachheit so inhaltschweren Herzensgeschichten, wie unsere Freunde sie als specifisch „Heimburgisch“ seit Jahren kennen: „Sommerfäden“, „Melanie“, „Friede auf Erden“, „Hermann und Dorothea“, „Ein treues Frauenherz“, „Johannes“, „Ihr Heinrich“ und das unsern Lesern bekannte „Unterm Schlosse“. Was die Heimburg’schen Erzählungen vor anderen ähnlichen Erzeugnissen so vortheilhaft auszeichnet, Innigkeit und Wärme der Empfindung bei großer Schlichtheit des Ausdrucks, Sicherheit und Natürlichkeit in der Führung der Handlung bei anspruchsloser Ursprünglichkeit in der Wahl der Motive – das giebt auch diesen „Waldblumen“ das charakteristische Gepräge. Es ist nichts Gemachtes, nichts Manierirtes in den Menschenbildern, welche unsere Erzählerin uns zeichnet; sie sind alle erlebt, beobachtet und in warmer Dichterseele gehegt und groß gezogen, diese Jünglinge und Greise, diese Backfische und alten Jungfern, diese thatkräftigen Männer und wackeren Hausfrauen; sie bewegen sich wie wirkliche Menschen, und wir verkehren mit ihnen, als hätten wir lange unter ihnen gelebt, als wären sie unsere Freunde von Alters her. Ein auch nur oberflächliches Eingehen auf die in dem neuesten Sammelwerke W. Heimburg’s zusammengefügten Erzählungen müssen wir uns an dieser Stelle leider versagen und uns damit begnügen, den im „Walde“ echtester Herzenspoesie gewachsenen „Blumen“ die besten Wünsche mit auf den Weg in’s große Publicum zu geben; ihr würziges Aroma wird keinen Leser berauschen oder betäuben, jeden aber erquicken und erfrischen, wie alle wahre Poesie, die zugleich Natur ist.

Neben die warmblütige Idyllenpoesie W. Heimburg’s stellen wir das Erstlingswerk einer Feder, welche sich in ganz anderen Bahnen bewegt. Hier tritt uns nicht, wie dort, das einfach und unmittelbar sich gebende Gefühl als schaffendes und bewegendes Element entgegen – hier steht vielmehr der reflectirende Gedanke im Mittelpunkte der Dichtung. Wir meinen A. Leschivo’s zweibändigen Roman „Der Ring der Wahrheit“ (Leipzig, Julius Klinkhardt). Ein Werk, das vorwiegend aus Reflexion geflossen, hat an und für sich etwas Kühles. Das ist hier aber nur in bedingter Weise der Fall; denn zu der kühlen Abstraction tritt im „Ring der Wahrheit“ ein halbwegs ausgleichendes Moment hinzu, das dem Geiste gewissermaßen sein Fleisch verleiht: die Leidenschaft – aber es ist die Leidenschaft nicht des Herzens, sondern eben des reflectirenden Geistes – und so bleibt trotzdem eine gewisse „Blässe des Gedankens“ in dem Romane zurück. Zu viel Gedachtes, zu wenig Gestaltetes! Leschivo bekundet ohne Frage ein höchst beachtenswerthes Talent, das weit über das romanschriftstellerische Mittelmaß hinausragt. Er ist ein Seelenkenner von ungewöhnlicher Spürkraft: „Der Ring der Wahrheit“ ist ein durchaus psychologischer Roman, oft edel in der Sprache, in einzelnen Details sehr interessant und seiner ethischen Grundidee nach – wir wollen sie nicht verrathen – fein angelegt und geistvoll durchgeführt. Nur hätten wir, wie bereits angedeutet, der dichterischen Veranschaulichung dieser Grundidee etwas mehr Körperlichkeit, wir hätten ihr außerdem etwas weniger Aufwand von Personal und Decoration gewünscht. Was wir bei den künftigen Werken des noch nicht voll ausgereiften Dichters zum Durchbruch gelangt sehen möchten, das ist: in der Charakterzeichnung mehr Fleisch und Blut des wirklichen Lebens, im Aufbau der Handlung schärfere und knappere Linien und vor Allem ein größeres Zurücktreten der Idee zu Gunsten der Plastik und des Realismus in Gestaltung und Darstellung.

Plastik und Realismus sind in hohem Grade einem andern zweibändigen Romane eigen: „Auf ewig gebunden“ von C. del Negro (Leipzig, Ed. Wartig). Wir haben hier ein Sittengemälde aus dem modernen Rom vor uns, ein nach dem Leben entworfenes Zeitbild, welches in seinen Consequenzen auf eine erbarmungslose Verurtheilung des Clerus und der römischen Aristokratie hinausläuft. Der Schilderung der verkommenen Gesellschafszustände im neuen Rom stellt der Roman mit richtigem Tactgefühl in einer Nebenhandlung ein rührendes und ergreifendes Bild aus dem römischen Volksleben versöhnend gegenüber, und diese Contrastirung bildet den Hauptreiz und den poetischen Hebel der geschickt erfundenen und sicher durchgeführten Fabel der Erzählung. Wir lernen die in Kabalen und Intriguen verstricte, in Wollust und Ehrsucht versunkene Aristokratie der „ewigen Stadt“ verachten und richten uns auf an jenen anderen Charakteren, welche dem Leben der vornehmen Salons der italienischen Residenz fern stehen und das Ideal des Guten und Schönen repräsentiren. Die Verkettung der Gestalten dieser beiden Gesellschaftskreise durch ein fein ersonnenes Bindeglied der Handlung ist eine höchst geschickte. In „Auf ewig gebunden“ lebt alles und bewegt sich alles – alles interessirt; es entrollt sich vor uns ein buntes, reizvolles Nebeneinander interessanter Charaktere und lebhaft anschaulicher Situationen; es entrollt sich auf einem künstlerisch ausgeführten Hintergrunde von frappant wirkendem Local- und Zeitcolorit. Aber hinter diesem plastischen Leben des Romans steht groß und schön die social moralische Tendenz desselben, die in dem knapp und effectvoll zusammengefaßten Schlußaccorde ihren präcisen Ausdruck findet. Die sterbende Heldin spricht diese Tendenz aus: „Nur die Arbeit adelt und bringt Segen“ – und diese einfache Schlußtendenz wirkt um so überzeugender, als wir den ganzen Roman hindurch Blicke gethan haben in das üppige, sittenverderbte Rom und somit um so empfänglicher sind für die eindringliche Wahrheit, welche der Schluß predigt. – Der del Negro’sche Roman hat seine unverkennbaren Schwächen: er hat Incorrectheiten in der Composition, Längen in der Darstellung. Unwahrscheinlichkeiten in der Motivirung, Unebenheiten im Stil; auch hält er in den Schilderungen der sybaritischen Tiberstadt vielleicht nicht immer jene Schönheitslinien maßvoller und kühler Darstellung inne, welche wir Deutschen – zumal unsere Frauen – nun einmal von der Romanliteratur fordern, ob mit Recht oder Unrecht fordern, möge hier unentschieden bleiben. Jedenfalls wird „Auf ewig gebunden“ allen Denen eine willkommene Lectüre sein, welche einen Blick thun wollen in das heutige vornehme Leben der einstigen Weltmetropole, und ihnen sei das geistvolle Buch warm empfohlen!

Lebt in den Romanen von Leschivo und del Negro ein gewisser Kriticismus, der das Menschenherz und die menschliche Gesellschaft unter sein scharfes Secirmesser nimmt, so betreten wir mit den „Novellen“ von Marie Landmann (Berlin, Alexander Duncker) wieder den Boden jener stimmungsvollen Erzählungen, jener „stillen Geschichten“, in denen W. Heimburg’s anmuthiges Talent wurzelt. Die Landmann’schen Novellen, sieben an der Zahl, sind die Erzeugnisse eines feinsinnigen Talentes, das ohne jede kokette Effecthascherei in ansprechender und ausgereifter Form tief empfundene und edel gedachte Seelengemälde entwirft: diese Novellen verdienen die Beachtung der deutschen Leserwelt in vollem Maße, und es ist namentlich die weibliche Jugend, an welche sie sich wenden.

Hier schließt sich ungezwungen ein Hinweis an auf drei durch gediegenen Inhalt und einschmeichelnde Darstellungsform ausgezeichnete Publicationen des Karl Krabbe’schen Verlages in Stuttgart: auf die gesammelten Erzählungen: „Wollt Ihr’s hören?“ von Adelheid Wildermuth und „Was das Leben bringt“ von Therese Devrient, sowie auf die Novelle „Die Erbin von Roseneck“ von Agnes Wilms – sämmtlich für Töchter des deutschen Mittelstandes bestimmt und sich auf jenem etwas nüchternen Niveau der moralisirenden Erzählung bewegend, welches man von der pädagogischen Belletristik nun einmal fordern muß. Hohen Flug der Gedanken und hinreißende Leidenschaft wird man hier vergebens suchen, aber man wird in den theils recht anmuthigen kleinen Erzählungen desto mehr gesundes Denken und einfache Herzenstöne finden – und das ist auch etwas werth.

Hierher gehören ferner, wenngleich sie im Stilgeschmack auf einer höheren Stufe stehen, die „heiteren und ernsten Silhouetten“ des häuslichen Lebens: „Er, Sie und Es“ von Helene Stöckl (Leipzig. C. A. Koch’s Verlag) und Emil Peschkau’s Novellen „Friedburg“ und „Zwei Tanten“ (Frankfurt a. M., C. Koenitzer), sowie desselben Verfassers „Ein- und Ausfälle“ (Frankfurt, ebendaselbst), drei beachtenswerthe Büchlein, welche wir zu dem Besten rechnen dürfen, das in diesem Genre jüngsthin auf dem Büchermarkte erschienen ist.

Eine Reihe von theils höchst bedeutsamen und originellen Geschichten und Skizzen veröffentlicht Ferdinand Groß unter dem Titel „Heut’ und gestern“ (Wien, Karl Konegen) – ein Quodlibet von bunt durch einander geworfenen Federzeichnungen, Studien, Einfällen, Portraits und Essays, welche die Feder des gewandten Feuilletonisten und feinen Beobachters verrathen. Möchte das amüsante Buch recht viele Freunde finden!

Zum Schlusse unserer heutigen Uebersicht registriren wir noch zwei Publicationen, die sich an allbekannte Namen knüpfen, aber nicht als Novitäten im eigentlichen Sinne des Wortes betrachtet werden können: F. W. Hackländer’s „Ausgewählte Werke“ (Stuttgart, Karl Krabbe) fanden mit dem soeben ausgegebenen neunzehnten und zwanzigsten Bande („Der Roman meines Lebens“) nunmehr ihren Abschluß, und Ernst Wichert’s imposanter und brillanter Geschichtsroman „Heinrich von Plauen“ (Leipzig, Karl Reißner) liegt in zweiter Auflage vor. Es möge hier genügen, diese beiden elegant ausgestatteten neuen Ausgaben der bekannten Werke unsern Lesern in Erinnerung zu bringen.

(Schluß folgt.)

Franz von Kobell, der „Naturforscher und Volksdichter“, welchem wir zu seinem fünfzigjährigen Doctorjubiläum in Nr. 15 des Jahrgangs 1878 eine Gedächtnißtafel zu errichten versucht haben, ist, beinahe achtzig Jahre alt, am 11. November dieses Jahres zu München ohne Todeskampf aus Altersschwäche sanft und ruhig entschlafen. Freilich waren auch ihm die Gebrechen des Alters nicht ferne geblieben, und er hat sie in gewisser Beziehung sogar mehr als Andere gefühlt, wenn ihn auch peinigende Krankheiten gänzlich verschonten. Sein Herz wie seine Phantasie waren jugendfrisch bis zuletzt – ein Vorrecht gottbegnadeter Dichter und Künstler –; realistisch und objectiv fühlte er darum doppelt das stetige Sinken der Körperkräfte. Am schmerzlichsten wohl war es ihm, daß die Füße den Dienst versagten, wenn es galt, im Hochgebirge des edlen Waidwerks zu pflegen und dem Gemsenvolke nachzupürschen. Vor ein paar Jahren ließ er sich noch die steileren Stellen, wenigstens bis zu den untersten Höhen, wo Gemsen wechseln, hinauftragen. In einem Gedichte bat er St. Hubertus, ihm hierher noch einen Gemsbock zu schicken. Das Gebet ward auch erhört. Als sechsundsiebenzigjähriger Greis schoß er hier noch seine „letzte Gemse“. Man erzählt sich nach gut verbürgten Quellen, Kobell habe, abergläubisch, wie wohl jeder echte Jäger, fest daran geglaubt, daß er, wenn er einmal ein Jahr hindurch keine Gemse mehr schieße, im nächsten Jahre sterben werde – ein Gedanke, welcher ihm stets ein unangenehmer war und blieb.

Gefürchtet aber hat er den Tod nie, wie er überhaupt nichts gefürchtet, sondern im Gegentheil Gefahren gesucht und überall, auch mit der Feder, derbe „Schneidigkeit“ und rücksichtslose Muthigkeit bis in seine letzten Lebenstage geübt hat. Zeuge dessen ist eine Reihe von Gedichten,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_802.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2023)