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verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Das Rectorat über die Universität Helmstädt hatte seit der Theilung der braunschweigischen Dynastie zwischen den beiden Geschlechtern abgewechselt, doch hatte dieses Verhältniß bei der Ungleichheit an Macht und Mitteln zu vielen Mißhelligkeiten und Reibereien geführt, die schließlich im Jahre 1737 mit der Gründung der Universität Göttingen durch die kurfürstliche Linie ihren Ausdruck fand. Nun hatte die Julia, oder wie sie zu Ehren des um sie viel verdienten Herzogs Karl des Ersten nunmehr hieß: Julia Carola, trotz der wärmsten Pflege doch einen schweren Stand, indem sie siebenachtel der Bevölkerung, auf die sie angewiesen war, verloren hatte. Dennoch lebte der alte Ruhm, welcher am Anfang des Jahrhunderts durch den großen Pandektisten Augustin Leyser und den Theologen und berühmtesten Prediger seiner Zeit Johannes Laurentius von Mosheim neue Nahrung erhalten, in einer Nachblüthe fort, welche bedeutende Namen zeigte.

War auch die Zahl der Studenten auf ein paar hundert gefallen und erreichte solche nur zur Zeit, als während des siebenjährigen Krieges Göttingen militärisch besetzt war, ausnahmsweise die Ziffer 800, so zeugen doch die häufigen und eigenthümlichen Verordnungen, Einrichtungen und Verbote von dem frischen akademischen Leben und dem von oben herab vielleicht allzu sehr gepflegten studentischen Corpsgeist.

Wir finden da wiederholte Verwarnungen an die Bürgerschaft, „keinem Studioso ohne Vorwissen seiner Eltern oder Vorgesetzten baares Geld, es sei solches noch so wenig, zu leihen, bei Aufhebung jedes Rechtsschutzes und willkürlicher Strafe. Versetzte Waaren oder andere Galanterien sollen sofort weggenommen werden, und nur der Credit einer Vierteljahrsmiethe und Kost, Kleidung bis 20 Thalern, Schneider- und Schusterarbeit für Thaler 10 – und Bier und Wein für Thaler 4 soll erlaubt sein“. Bei dem damals billigen Bierpreise konnte man sich für dieses Geld übrigens schon einen ganz respectablen Spitz holen.

Alle ungebührliche Familiarität mit den Bürgern, gemeinschaftliche Gelage, Spiele, Brüderschaften und Divertissements wurden auf’s Schärfste verboten. Die öffentlichen Plätze mußten im Interesse der Herren Studiosi anständig und ruhig erhalten werden. Die Bürgerschaft mußte ihnen ausweichen, das Singen, Schreien, das Umherlaufen im Schlafrocke, mit brennender Pfeife war ihnen aber untersagt. Die jungen Leute waren, wie man sieht, die Herren von Helmstädt, das von ihnen allerdings einen Theil seiner Einnahmen bezog, und führten in dem ruhigen, reizend gelegenen Städtchen ein echt akademisches Leben. Sie arbeiteten in ihren engen Kammern, hörten in den Häusern der Professoren Collegien, speisten zum großen Theile an den von Inspectoren beaufsichtigten Freitischen gemeinsam und fanden auf den Promenaden und in den Waldungen um die Wälle der Stadt Zerstreuung und Sammlung. Das Duelliren und Commersiren war streng verpönt und konnte nur in großer Heimlichkeit betrieben werden.

In der zweiten und letzten Epoche waren es besonders folgende Männer, welche die lernbegierige Jugend um sich versammelten: vor Allem der berühmte Chirurg Lorenz Heister, einer der bedeutendsten Vertreter der Chirurgie im vorigen Jahrhundert, sodann der Historiker und Publicist Franz Dominicus Haeberlein, besonders durch seine umfassende Arbeit der „Deutschen Reichsgeschichte“ berühmt, und sein durch reiche Literatur noch berühmterer Sohn, der Staatsrechtslehrer und Publicist Karl Friedrich Haeberlein, ferner der namhafte protestantische Kirchenhistoriker Heinrich Philipp Conrad Henke und der viel kritisirte, viel verkannte und doch hochberühmte Gottfried Christoph Beireis. Dieser Letzterwähnte, ein Mann, dessen interessantes blasses Gesicht und große schwarze Augen uns noch heute aus einem halbvergilbten Portrait in der einstigen Aula anziehen, war Professor der Physik, Medicin und Chirurgie, Hofrath und Leibarzt des Herzogs, ein vielseitig hochgelehrter und aufopfernder Menschenfreund, ein Original: mit hechtgrauem Rocke und schneeweißem Jabot sah man den kleinen Herrn nur auf Krankenbesuchen, denen er bei Arm und Reich, unbekümmert um Wetter und Zeit, bis zu seinem im Alter von neunundsiebenzig Jahren 1809 erfolgten Tode unermüdlich oblag. Unverheirathet, mit einem einzigen treuen Diener lebend, liebte er es, sich mit einem Nimbus des Wunderbaren zu umgeben, welcher ihn schon oft zum Romanhelden gemacht hat. Der Verkauf und die Verwerthung einiger wichtigen Erfindungen in der Darstellung von Carmin im Auslande hatte ihn ein Vermögen eingetragen, welches er zu seiner weitberühmten Naturalien- und Kunstsammlung verwendete. Dort paradirte die berühmte Vaucanson’sche automatische, fressende und verdauende Ente, die übrigens in neuester Zeit aufgefunden und von dem St. Petersburger Curiositätencabinet von Gaßner angekauft worden sein soll, ein Stein, den er als einen Diamanten von 6400 Karat bezeichnete – der spurlos verschwunden ist –, die Guericke’sche Luftpumpe, Münzcabinete, Gemäldesammlungen und allerlei Wunderlichkeiten, auf deren Besitz er sehr stolz war und die auch Goethe bei einem Besuche des sonderbaren Mannes besichtigte. Er verblüffte gern seine Gäste; so soll er einmal die Farbe der Livreen der aufwartenden Diener aus roth in blau verwandelt haben; wer die eiserne Thürklinke seines stets geschlossenen Hauses berührte, bekam – eine liebenswürdige Ueberraschung, besonders für nervöse, den Arzt consultirende Damen – einen elektrischen Schlag versetzt.

Nun, noch steht das vornehme Haus dieses Gelehrten, aber seine Thür ist weit offen; Geschäftslocale sind hier, wie in den Hallen der meisten ehemaligen Professorenhäuser etablirt worden. So ging es auch mit der Universität selbst: das Gehäuse blieb erhalten, aber der Inhalt dieses Zusammenflusses von strebenden Geistern ist längst ausgestorben.

Als im Anfange unseres Jahrhunderts das braunschweigische Land dem Königreich Westfalen unter Jerôme einverleibt wurde, war die Aufhebung der Helmstädter Hochschule eine beschlossene Sache. Da entstand Verzweiflung in dem damals noch sehr vollzähligen Lehrkörper, unter den Studirenden, in der Bürgerschaft; es gab Reisen, Experten, Vorstellungen. Versprechungen, Hoffnungen und am Schlusse doch unerbittlich das Todesurtheil in Gestalt eines vom 10. December 1809 datirten Decretes:

„In unserem Königreiche sollen in Zukunft nur drei Universitäten sein, nämlich die zu Göttingen, Halle und Marburg, mit welchen diejenigen zu Helmstädt und Rinteln sollen vereinigt werden.“

So wurde ein leuchtender Feuerbrand wissenschaftlicher Bildung und hochbedeutender Förderung freier Forschung aus einander gerissen, aber die brennenden Scheite sind nicht ausgelöscht, sondern haben, wo sie niederfielen, weiter Flamme und Wärme gespendet. Nicht lange blieb der Herd verödet: ein wohl renommirtes Gymnasium hat in den geweihten Räumen der Universität Einzug gehalten, eine große landwirthschaftliche Schule, eine Bürgerschule, ein lutherisches Jungfrauenstift und eine gute Mädchenschule vereinigen in dem heute wohlhabenden industriellen Städtchen eine verhältnißmäßig große Anzahl lernender Jugend. Die meisten Bürgerfamilien haben einige dieser jungen Leute mit ihren in allen Farben schillernden Kappen in Pension, und in den freundlich lichten Räumen des ersten Stockwerkes stehen die Reste der noch immer ansehnlichen Bibliothek – wohl selten werden diese Bücher heute noch consultirt. Die werthvolleren Werke sind nicht mehr vorhanden. In dem Städtchen lebt kaum noch Jemand, der sich an die glanzvolle Zeit erinnert, die kaum vor siebenzig Jahren ihren Abschluß fand: Jeder geht seinen Geschäften nach – für die Interessen vergangener Tage fehlt dem Lebenden, der mit dem Heute und Morgen rechnet, doch die innere Beziehung – und der Fremde wird angestaunt, der vor den Häuser-Inschriften stehen bleibt, welche von Helmstädts glänzender Zeit Zeugniß geben.

Und es ist gut, daß es so ist. – Nur der rückhaltlose Bruch mit ausgelebten Vorstellungen kann den frischen Zug des Wachsthums erzeugen, welcher heute in allen Städten düstere Wälle und enge Gassen durchbricht, gesunde Wohnungen, luftige breite Straßen und grüne Parke hervorzaubert. Sagt doch unser idealster Dichter in richtiger Würdigung dieser Verhältnisse:

„Wir, wir leben – unser sind die Stunden,
Und der Lebende hat Recht.“

Oscar Justinus.[WS 1]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: I/Jnstinus
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1882, Seite 766. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_766.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2023)