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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Esaias Tegnér

Zu seinem hundertsten Geburtstage.

„Hier seine Wiege,
In Wexiö sein Grab,
Im Liede sein Andenken.“

So lautet die Inschrift auf dem Steine, den man bei der unansehnlichen kleinen Predigerwohnung in Kirkerud in der Landschaft Wermland zum Andenken an Schwedens größten Dichter errichtet hat, zum Andenken an Esaias Tegnér, der dort am 13. November 1782 das Licht der Welt erblickte. Wohl stand in Schweden seine Wiege, wohl hat er auch dort sein Grab gefunden, aber sein Genius gehört der Welt; denn der klanggewaltige und geisteshohe Sänger der Frithjof-Sage lebt in seinen Werken dauernd fort, nicht blos in seinem Vaterlande, nein überall da, wo man die Dichtkunst heute noch liebt und in Ehren hält.

Wie viele Herzen auf dem weiten Erdenrund schlagen höher bei dem Namen: Tegnér! Wie viele zumal in Deutschland! Die Gestalten des schwedischen Dichters, umweht vom eigenartigen, herbmilden Dufte nordischen Empfindungslebens, sind längst deutsches Nationaleigenthum geworden; mit der goldhaarigen Ingeborg weiß die deutsche Jungfrau sich eins im Fühlen und Denken; mit ihr schwärmt sie in „Nordens Hain“ von der Liebe, „die nimmer endet“; mit ihr hebt sie im Geiste „die herzbewegende Klage“ an um den Geliebten, der da draußen schweift auf der dunklen Salzfluth. Dem deutschen Jünglinge aber pochen die Pulse höher, wenn er von Frithjof’s Meerfahrten liest; mit ihm besteigt er Ellide, das flinke Schiff, um mit Wikingern und See-Ungeheuern zu streiten; mit ihm schwingt er Angurwadel, das tapfere Schwert, das dem Starken die Braut erkämpfen soll.

„Ja, Tegnér lebt kraft seines Genius im Herzen aller Culturvölker, und so darf denn auch heute, an seinem hundertsten Geburtstage, das Dichterwort auf ihn angewendet werden und ehrend und preisend von Volk zu Volke klingen: „er war unser“.

Esaias Tegnér, ein Predigersohn – wir können kurz über seine Lebensschicksale hinweggehen – ist im eigentlichsten Sinne des Wortes aus der Mitte des schwedischen Volkes hervorgegangen; sowohl von väterlicher wie von mütterlicher Seite stammt er aus echtem Bauerngeschlecht. Nach des Vaters frühem Tod nahm sich ein Jugendfreund des Letzteren seiner an. Esaias’ Pflegevater war Beamter, und da die guten Anlagen des Knaben schon früh eine vorzügliche Begabung für die Buchführung zeigten, wollte man ihn anfangs für die Comptoirgeschäfte ausbilden. Allein der brave Pflegevater erkannte sehr bald[WS 1], daß „Esse zu gut sei, um Zahlen bei ihm zu schreiben“, und als der Knabe das vierzehnte Jahr erreicht hatte, wurde der Entschluß gefaßt, ihn studiren zu lassen. Freilich reichten die Mittel zum Besuche einer Schule nicht aus, eine Familie aber, bei der einer seiner Brüder Hauslehrer war, nahm ihn bei sich auf und ließ ihn am Unterricht theilnehmen, und als der Bruder ein Jahr darauf eine andere Hauslehrerstelle erhielt, wurde auch Esaias mit hinüber genommen, und sein neuer Pflegevater, der Bergwerksbesitzer Christopher Myhrman, sorgte ebenso liebreich für ihn, wie es der vorige gethan.

Eine besonders schwere Zeit hub indessen für den jungen Tegnér mit dem Beginne der Universitätsjahre, 1799, an. Kampf und Entbehrung war während seiner Studien in Lund sein Loos, bis er im Jahre 1805 zum Adjunct der Aesthetik und zum Vicebibliothekar an der Universitätsbibliothek daselbst ernannt wurde. Nun endlich war seine Lage eine gesicherte, und schon im nächsten Jahre führte er die Tochter seines Wohlthäters, Anna Myhrman, als Braut heim.

Tegner’s im Jahre 1810 beginnende Thätigkeit als akademischer Lehrer zu Lund war von außerordentlich großer Bedeutung: Seine glänzende Beredsamkeit, seine tiefe Kenntniß der Fächer, die er vortrug, und überhaupt seine hervorragende Begabung sowie der berühmte Name, den er sich schon damals als Dichter erworben, alle diese Eigenschaften machten ihn zu einer der vorzüglichsten Zierden der Hochschule. Durch seine große persönliche Liebenswürdigkeit erwarb er sich die Gunst der Studenten in hohem Grade, und vermöge seiner geistigen Ueberlegenheit ward er der Mittelpunkt des geistigen Lebens in Lund. So war es denn erklärlich, daß er nur mit schwerem Herzen aus dem ihm so liebgewordenen Wirkungskreise schied, als er 1826 einem Rufe nach Wexiö als Bischof folgte.

Die Thätigkeit, der er sich in dieser seiner neuen Stellung widmen mußte, lag ihm in jeder Beziehung fern. Als Bischof mußte er auf dem Reichstage erscheinen und sich am politischen Leben betheiligen, das ihn noch weniger ansprach, als seine geistlichen Geschäfte. Es ist tief zu beklagen, daß seine Dichtung, die sich während seines langen Aufenthaltes in Lund in reicher Fülle entfaltet hatte, in Wexiö mehr und mehr verstummte; seine Gesundheit wurde schwankend, und endlich zeigte es sich, daß seine Befürchtung, die in seiner Familie herrschende Anlage zu Gemüthskrankheiten habe sich auch auf ihn vererbt, nur zu wohl begründet war. Er folgte dem Rathe der Aerzte, sich ein Jahr (1839 bis 1840) auf der Irrenanstalt zu Schleswig aufzuhalten, und ward hier auch soweit hergestellt, daß er seine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen konnte. Bald indessen fiel er wieder in den alten Zustand körperlicher Schwäche und geistiger Schlaffheit zurück, bis ihn am 2. November 1846 der Tod von seinen Leiden erlöste.

Tegnér’s dichterische Thätigkeit fällt, wie schon bemerkt, wesentlich in die Zeit, die er als Universitätslehrer in Lund verlebte.

Es ist bezeichnend für die glänzende, allem Unfertigen und Halben abgeneigte dichterische Eigenart unseres Poeten, daß gleich in seinen ersten Erzeugnissen der große Dichter in seiner ganzen classischen Schönheit fertig dastand; mit hinreißender Macht in Sprache und Rhythmus, mit herzbezwingender Gluth der Empfindung und mit leuchtender Schöpferkraft der Phantasie trat er auf einmal siegreich vor seine Nation, vor die Welt. Der Stern seiner Dichtung ging zu einer glücklichen Stunde über Schweden auf; es war, als ob sein Volk auf den großen Dichter gewartet hätte, der all die Töne, welche damals im nordischen Dichterwalde noch ungeordnet, des inneren Haltes entbehrend, erklangen, zu einer schönen harmonischen Einheit meisterhaft zu verschmelzen wußte. Das neunzehnte Jahrhundert hatte, wie anderwärts, so auch in Schweden, vom achtzehnten eine Dichtung übernommen, die – welch gute Eigenschaften ihr auch sonst innewohnen mochten – weit davon entfernt war, national und original zu sein. Wohl brachte Schweden am Schlusse des achtzehnten Jahrhunderts einzelne Dichter hervor, deren Gesang ein inniger, tief gefühlter Wiederklang war von dem, was sich im Volke regte – einer von ihnen, Karl Wilhelm Bellman (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1878, S. 608), war sogar eine der originellsten und tiefsten Dichternaturen, die irgend eine Literatur aufzuweisen hat – allein diese Dichter waren ihrer geistigen Entwickelung und ihrem Gefühlsleben nach noch nicht über die unteren Schichten des Volkes, aus denen sie hervorgegangen waren, hinausgekommen und wurden darum von den in der Literatur und im Geistesleben tonangebenden Kreisen kaum beachtet; denn hier führte der französische Geschmack das Scepter der Alleinherrschaft. Der hochbegabte, kunstliebende König Gustav der Dritte hatte seine Bildung ausschließlich der französischen Schule zu danken, und von dem Dichterkreis, der ihn umgab, galt dasselbe. So war denn die von ihm 1786 gestiftete „Schwedische Akademie“ ganz und gar nach dem französischen Vorbilde zugeschnitten, und nur das, was sich in den steifen Regeln der pseudoclassischen französischen Poetik und Rhetorik bewegte, fand Gnade vor den Augen der Akademiker.

Gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts aber begann im Geistesleben Schwedens ein gesunder Wind zu wehen – und da geschah es, daß diese unnatürliche Richtung, die jeder echt nationalen Entwickelung hemmend im Wege stand, zu erlahmen anfing. Es erhob sich, aus dem erwachenden Geiste der Zeit geboren, ein flammender Kampf gegen die Ueberlieferungen der Pariser Literaturschule; man wollte das Flitterwerk höfischer Sentimentalität entfernen und etwas Gehaltvolleres, Wahreres und Echteres an seine Stelle setzen. Aber es liegt nun einmal in der Natur des Menschengeistes wie der allgemeinen Dinge der Welt, daß Großes und Neues, sofern es Dauer haben soll, nicht mit einem Schlage geschaffen werden kann. Ein Frühlingstag kann nicht die Früchte des Sommers reifen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hald
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_747.jpg&oldid=- (Version vom 8.8.2023)