Seite:Die Gartenlaube (1882) 746.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Aber sie wandte sich nicht um; sie sah auf das blinkende Wasser und schauderte, weil noch immer kein Boot in Sicht war. Zögernd ging sie die Dorfstraße hinab. Ruhelos schritt sie durch den mondhellen Garten und horchte auf jeden Ton, der vom Dorfe her durch die Bäume und Hecken drang.

Ob sie ihn zurückgewinnen konnte. Ob sein Herz sich losreißen würde von dem bezaubernden Lachen der jungen Künstlerin? Nun hatte sie den Geliebten ihrer Jugend wiedergesehen – wie im Traume fuhr sie sich bei diesem Gedanken mit der Hand über die Stirn – und was hatte sein Anblick in ihr befestigt? Liebe zu ihrem Gatten! Liebe zu dem Freunde ihres Herzens! Sie hatte jetzt ein Recht auf diese Liebe.

„O mein Freund, mein Freund,“ sprach sie leidenschaftlich vor sich hin und streckte sehnsuchtsvoll die Arme in die leere Luft.

Sie lehnte sich gegen den Stamm einer alten Silberpappel und blickte, ohne zu sehen, in den märchenhaft funkelnden Baldachin empor, welchen der Baum über ihr wölbte.

Plötzlich knarrte die Pforte des Gärtchens.

„Geh hinein, mein Sohn! Ich habe mit Deiner Mutter zu sprechen,“ sagte Arndt zu dem verwunderten Jünglinge, der träumerisch gehorchte. Dann betrat er den Garten, in welchem er von der Straße her Henriettens Kleid hatte leuchten sehen.

Er kam sehr langsam auf sie zu; denn er wußte durchaus nicht, was er mit ihr besprechen wollte. Er war nur einer plötzlichen Regung gefolgt, als er sie so allein in dem hellen Zauberlichte zwischen den Bäumen stehen sah. War sie wirklich um des Knaben willen eifersüchtig auf Erna, so gab es einer Frau gegenüber, wie sie, nur eine Erklärung für dieses Gefühl: sie sah noch immer die Augen des Geliebten in den Augen ihres Sohnes.

Das hatte er sich wieder und wieder gesagt, während das Plätschern der Wellen und das Lachen der jungen Leute heute Abend seine Sinne umschmeichelte, und das sagte er sich auch jetzt. – Aber warum hatte sie sich heute Abend zum ersten Mal rücksichtslos ihren überspannten Empfindungen hingegeben? – Er war gewohnt, daß sie sich stets um ihrer Umgebung und insbesondere um seinetwillen bezwang. Er hatte ihr oft wegen dieser vollendeten Herrschaft über sich selbst gegrollt, und nun, da sie dieselbe einmal nicht übte, grollte er erst recht – aber zugleich erschien sie ihm neu, jünger und bestrickender, als je zuvor.

Mit seltsam klopfendem Herzen trat er auf sie zu.

Sie stand noch immer an dem Stamm der alten Silberpappel und ließ ihn dicht heran kommen, ohne sich zu rühren; gegen ihre Gewohnheit wurde sie glühend roth, als sie seinen vorwurfsvollen Blick über sich hingleiten ließ.

Er sah es trotz der blendenden Lichtwellen des Mondes, die unsicher durch das Gezweig herabzitterten, und vor seiner Seele wurde es auf einmal so tageshell, wie es noch nie zuvor darin gewesen war – er wußte plötzlich, daß es sich in diesem Frauenherzen um ihn handelte.

„That ich Dir Etwas zu Leid, Henriette? Habe ich Dich beleidigt?“ fragte er mit unendlich weicher, beinahe mitleidiger Stimme. Sie zuckte zusammen und sah zu Boden. Auch sie hatte plötzlich Alles begriffen.

„Nein,“ sagte sie – „ich selbst habe mich beleidigt;“ sie wandte sich ab. Er seufzte ungeduldig.

„Wohl damals, als Du mich ohne Liebe zum Altar geführt?“ fragte er mit ausbrechender Leidenschaft.

„Damals? O Arndt, ich denke an heut: ich war eifersüchtig auf Erna.“

Sie kehrte sich wieder zu ihm, aber ihre Kniee zitterten vor Scham. Wortlos führte er sie zu einer Bank und zog sie an seine Seite nieder.

„O Georg, was habe ich gelitten um Dich!“ flüsterte sie. „Und doch ... kannst Du es fassen? – trotz aller Qual, aller Verzweiflung hab’ ich mich lange nicht so frei gefühlt, wie heut.“

Sie athmete tief auf und sah in den fast lichtblauen Nachthimmel empor. Zwei weiße Wolken zogen langsam, wie eine große Botschaft des Friedens, über ihren Häuptern hin – die ganze Natur lag um sie her wie ein lautloses Gebet.

„Kannst Du es fassen?“ fragte sie noch einmal. „Nie fühlte ich mich so frei, wie heut.“

„Weil die Last Deiner Vollkommenheit von Dir fiel,“ sprach er in einer Art von Siegestaumel und preßte das feine, blasse Haupt der geliebten Frau an seine Brust. „Weil Du Mensch wurdest, wie wir.“

Was war das? ihre Seele horchte auf: klang nicht Etwas wie eine unsäglich herbe, Jahre lang angesammelte, aber immer zurückgedrängte Bitterkeit durch seine Worte? Etwas, das sich wie eine gewaltige Dissonanz plötzlich harmonisch in der Freude des Augenblicks löste? Sie senkte Haupt und Lider und hielt die gefalteten Hände starr im Schooß.

„Verzeih mir! – Und jetzt bin ich sehr unvollkommen. – Heute hab’ ich wirklich nicht gewollt – heute hab’ ich gemußt,“ sagte sie demüthig, und nach langem Sinnen setzte sie leise hinzu: „Noch einmal hab’ ich in der Liebe über mich selbst gesiegt. – Arndt, ich bin glücklich.“

Da fühlte sie ihre Hände von denen Arndt’s umklammert.

„Es ist wahr,“ stöhnte er, „Du hast mich alle diese Jahre nicht geliebt – aber jetzt – von heute ab gehörst Du mir.“

Sie antwortete nicht gleich. Nach einer Weile machte sie sich los und erhob sich.

„Ein klares Stück Ewigkeit!“ sagte sie, vor ihm stehend, und blickte gedankenvoll über sich. „So klein, wie heute Nacht, ist mir die Welt noch nie erschienen.“ Und sie reichte ihm die Hand, zum Zeichen, daß er mit in jene Ewigkeit gehöre, die sich vor ihr aufthat. „Ich fürchte nun Nichts mehr, nicht das Leben und nicht den Tod.“ Sie drückte seine Hand fester.

Noch immer zogen die beiden weißen Wolken durch die stille Mondnacht – an den Büschen funkelte das Licht wie tausend Edelsteine, und in breiten Strömen floß es über Haus und Garten bis tief in jeden verborgenen Winkel. Hoch über ihnen in den alten Baumkronen ward es lebendig, aber nicht in Tönen, nur in schwebenden, unaufhörlich zitternden Silberstrahlen, wie tausend Gedanken und tausend Träume huschte es von Zweig zu Zweig, floh es von Ast zu Ast und rieselte blendend an den dunklen Stämmen hinab.

Henriette empfand das Alles, ohne es zu sehen – und Arndt sah es wohl, aber nur, weil sie inmitten dieser Zauberpracht stand, und förmlich behutsam bog er die durchsichtigen Blätter einer nahen Akazie fort, welche sich licht, wie ein zarter frühlingsgrüner Schleier, um ihre Schultern gelegt hatten; denn er wollte Nichts sehen, als sie. – – –

„Und wo ist Curt?“ fragte Henriette eine halbe Stunde später, während ein dunkler Schatten der Unruhe über ihr Gesicht zitterte. Als sie aufsah, blickte sie in das strahlende Auge ihres Gatten.

„Henriette,“ sagte er, „Du darfst Dich nicht mit unnützen Sorgen quälen, denn ich weiß, daß es Dich quälen würde, zu denken, Curt hätte heute etwas verloren. Henriette, ich verspreche Dir: von heute ab soll er mehr denn je unser Sohn sein.“

„Ja,“ erwiderte sie fast angstvoll-hastig, „unser Sohn, unser Kind! Und wir lassen ihn nicht, bis die Muse ihn vollends aus unseren Armen hebt und ihm eine neue Heimath giebt.“

Sein Blick hing trunken an ihren erregten Lippen; Alles an ihr war heute neu und geheimnißvoll, wie an einer Braut.

„Komm jetzt!“ bat er. „Das ausgeblasene Licht ist wieder angezündet. Es ist hell in unserer Wohnung, wo wir auch hintreten. Ich bin nicht eifersüchtig auf unseren Sohn, aber Du sollst heute Abend nicht mehr um ihn weinen“

„Ich weine nicht um ihn – ich weine vor Glück,“ flüsterte sie. „Ich denke ja mehr – weit mehr an Dich, als an ihn. – O Arndt, ich frage nicht mehr, was recht ist und unrecht, was vollkommen ist oder unvollkommen.“

Er umschlang sie mit beiden Armen.

„Eine Frau, die liebt, ist vollkommen,“ sagte er ruhig, während er auf ihr gluthübergossenes Antlitz hinabsah, und ein schlichter Ernst lag in seinen Mienen. „Auch der Mann darf knieen, wenn er zum ersten Mal in seinem Leben glücklich ist,“ sprach er dann und warf sich vor ihr nieder.

„Du hast Recht,“ flüsterte sie traumhaft, „Glück ist ein welt-und-menschenüberwindender Erlöser.“




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_746.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)