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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

„Hoffentlich!“ antwortete Arndt und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hinaus; ja, er sah nicht einmal, daß sie eine Bewegung machte, um ihm zuletzt, wie immer, die Hand zu reichen.




18.

Henriette war in ihrem kleinen Zimmer allein.

Wie so häufig, setzte sie sich an das niedrige, in den Garten hinaussehende Fenster, aber ihre großen, weitgeöffneten Augen hatten ihren gewohnten träumerischen Schmelz verloren und glühten wie in steigendem Fieber über den bleichen Wangen. Ihre Phantasie wuchs, wie draußen die Schatten der Bäume. Bloße Vorstellungen wurden zu Vermuthungen, und was sie anfangs nur als möglich dachte, aber für unmöglich hielt, nahm nach und nach die Züge der Wahrscheinlichkeit an. Sie stand auf und preßte die heiße Stirn gegen die kühlen Scheiben des Fensters.

Jetzt schaukelten sie wohl schon längst auf dunkler See in dem kleinen Boote, Arndt, Erna und Curt. Indem sie das dachte, ging der Mond über den Wassern auf; er stieg allmählich immer höher, bis er zuletzt mit zitternden Strahlen durch die Zweige des abendlichen Gärtchens schimmerte und ein unheimliches Zwielicht durch das kleine Gemach ergoß. Ihr war, als höre sie ein lautes, herzbethörendes Lachen, das immer ferner und ferner verhallte, das Lachen Erna’s.

„Mein Freund! – mein Freund!“ sagte sie fortwährend leise vor sich hin und betonte immer wieder das Wort „Freund“, als läge eine Beruhigung darin, daß er ihr niemals mehr gewesen war, als ein Freund. Aber sie sprach dieses Wort mit glühendem Athem, und die Eifersucht riß dabei ihr Herz von einem Gedanken zum anderen und grub und bohrte immer tiefer und wühlte sich immer heimtückischer in sie hinein. Wie gefoltert fiel sie auf die Kniee nieder, und sinnlose Gebete stürzten von ihren Lippen.

Plötzlich war es, als ob ein schwerer Stein von der Grabesthür ihres Herzens gewälzt würde, als sprängen alle zurück gedrängten heißen Quellen nun auf einmal auf und brächen in wildem Schmerz durch Seele und Körper.

„O Arndt! – Arndt!“ rief sie.

Und als sie endlich aufstand, wankte sie unsicheren Schrittes durch’s Zimmer. Sie wußte jetzt, daß sie zum zweiten Mal liebte – und sie fand keinen Halt mehr in ihrer Seele.

Auch das schwerste Schicksal kann seinen Trost in sich selbst haben. Wie ein in Felsen gehauenes Denkmal richtet es sich in der Brust des Menschen auf und predigt mit der Stimme der Ewigkeit, wenn die gelegentlichen Wellen der Alltagsempfindung durch die Seele wogen.

Ein solches Denkmal war das Schicksal ihrer todten Liebe zu dem Einst-Verlobten gewesen. In dem Bewußtsein, daß sie etwas erlebt hatte, das sie niemals wieder erleben konnte, hatte einerseits ihr persönliches Leben an Werth verloren, und es war ihr nicht schwer geworden, sich für Andere zu opfern – und andererseits war ihr jeder kleinste persönliche Genuß zu etwas unendlich Großem erwachsen, da sie jenes Bewußtsein, das Größte hinter sich zu haben, mit dem festen Willen verband, deshalb nicht zu verzagen und das Geringste hoch zu halten.

Nun aber trieb sie haltlos auf dem Meere ihrer Empfindung, wie ein Schiff ohne Masten und Steuer. Eine erste Liebe erfüllt das Weib unter allen Umständen mit Stolz – eine zweite erfüllt es mit Scham.

Und hier! Kein Stolz mehr, kein Trost mehr, kein Glück!

Ruhelos ging sie auf und ab.

Nur ein Gedanke erstickte sie: Arndt liebe – und daß es zu spät sei für diese Liebe. Eine Andere, Eine, die er vor ihr gekannt hatte, lebte jetzt in seinem Herzen. Eine „Andere“!

„O, mein Freund! mein Freund!“ rief sie wieder und wieder. Plötzlich hielt sie im Gehen inne. Ja, das war es. eine Strafe! eine furchtbare, aber – eine gerechte! –

Sie faltete die Hände und betete: sie hatte an seiner Seite gelebt und von seiner Liebe gezehrt, ohne den guten Willen, ihn wieder zu lieben. Ihre Freundschaft hatte sie ihm gegeben; denn die kostete sie nichts – ihre Gegenwart hatte sie ihm willig geopfert, aber ihr Bestes, ihre Vergangenheit, behielt sie ja zurück; ihre Dienste, ihr äußeres Dasein hatten ihm gehört, aber ihr innerstes Selbst, ihr Stolz, ihr Heiligthum waren ihr verblieben, und sie hatte nie, nie – auch nicht ein einziges Mal nur den leisesten Wunsch gehabt, daß es anders sein möge. Sie hatte geglaubt, das Räthsel eines selbstlosen Daseins gelöst zu haben, und ihr Leben war ein großer Selbstbetrug gewesen.

Henriette schluchzte laut auf, aber sie wurde doch ruhiger für den Augenblick; es tröstete sie, daß sie verdiente, was sie jetzt litt; ja sie empfand es plötzlich wie einen stillen Genuß, zu büßen, was sie an Dem verbrochen hatte, den sie jetzt liebte.

So wankte sie mit dumpfer Seele hinaus in den Garten, und die großen Thränen, welche brennend aus ihren Augen tropften, waren keine Thränen der Verzweiflung, keine Thränen der Eifersucht mehr – sie galten dem schweren Irrthume ihres Lebens. Ohne weitere Ueberlegung, nur von der unbezwinglichen Sehnsucht getrieben, Arndt aufzusuchen, verließ sie den Garten und schritt wie eine Nachtwandlerin über die stillen wüsten Straßen des mondscheindurchleuchteten Dorfes.

Die Wohnung der Malerinnen war bald erreicht; sie blieb vor der Thür derselben stehen; von hier aus konnte sie deutlich sehen, wenn die Gesellschaft vom Wasser heraufkommen würde.

Aber was war das? Im Wohnzimmer der Schwestern brannte noch Licht. Gewiß waren Arndt, Erna und Curt schon zurück und lachten und plauderten nun hier mit den Freundinnen – – ohne sie! O, er hatte sich nicht losreißen können von der holdseligen Gegenwart des Mädchens, dessen erste Liebe er gewesen war.

Ein undeutliches Gewirr von Stimmen schlug an Henriettens Ohr – und das – das war ein perlendes Lachen – und wieder ein Lachen wie von Arndt’s Munde. Nein! Die erregte Phantasie täuschte sie. Es war etwas Anderes. Oder war es nichts?

Das Blut pulsirte heftig in ihren Adern; ihre Füße wurden schwer wie Blei; müde lehnte sie sich einen Augenblick gegen den Thürpfosten. Dann stürzte sie vorwärts durch den niedrigen Flur und klopfte an die Thür des Wohnzimmers. Niemand rief „Herein!“, aber hastige Schritte klangen durch’s Gemach. Adelheid öffnete und schrak zurück, als sie Henrietten erkannte.

„Gleich!“ rief sie mit unsicherer, fast barscher Stimme, riß die Thür wieder zu und schloß von innen ab. Und nun erhob sich da drinnen ein sonderbares Reden und Raunen – eine Art heiseren Flüsterns, wie es den Schwestern eigen war, wenn sie leise sprachen.

Henriette preßte beide Hände gegen ihre tobenden Schläfen; plötzlich stieß sie einen Schrei aus und taumelte gegen die Wand zurück. Welch ein Gedanke: Arndt war ertrunken, und sie hatten ihn als Leiche hier im Zimmer. Eine entsetzliche Ahnung!

„Todt! todt!“ stöhnte sie verzweifelt, tastete durch Küche und Schlafzimmer und stand nach wenigen Secunden auf der Schwelle des Wohngemaches. Entsetzt fuhren Auguste und Adelheid bei ihrem Anblick aus einander. Aber Henriette sah es nicht; sie sah nur das erstarrte Gesicht des blassen Mannes, der im Hintergrunde des Zimmers neben Auguste und Adelheid stand und sie unverwandt mit großen, dunklen, schuldbewußten Augen ansah.

Gott! war es Traum oder Wirklichkeit? Henriette kannte diesen Mann – es war nicht Arndt; es war – der Geliebte ihrer Jugend. Aber er hatte keine Aehnlichkeit mehr mit dem geflügelten Götterjüngling am Felsenweg von Alt-Hellas. Ein dämonischer Faust-Kopf thronte auf den erschlafften Schultern eines weltmüden Menschen. Etwas in ihm – vielleicht sein Bestes – mußte wohl niemals aufgehört haben, Henriette zu lieben – das sagte deutlich die Gluth seines nach Vergebung ringenden Blickes in dieser Minute.

Aber Henriette war todt für die Sprache dieses Mannes. Sie starrte ihn an – unverwandt, wie er sie, und Nichts in ihr regte und bewegte sich; nur eine Art von Gespensterfurcht jagte eiskalt durch ihre Seele.

Sie liebte Arndt – nicht diesen.

„Ich glaubte, Arndt und Curt wären hier,“ sagte sie tonlos zu der herangetretenen Auguste.

„Nein, die sind noch mit Erna auf dem Wasser. Wir blieben hier, weil sich unser Bruder telegraphisch angemeldet hatte. Er ist vor einer Viertelstunde gekommen und reist morgen früh wieder ab.“

„Ich will nicht stören,“ antwortete Henriette. „Gute Nacht.“

„Henriette! ein Wort! ein einziges! O Henriette!“ rief eine heisere Stimme hinter ihr, als sie das Haus verlassen hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_744.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)