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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Deutschlands große Industrie-Werkstätten.
Nr. 15. Deutsche Tintenfabrikation.

Die Zeit ist noch nicht so fern, wo die Tintenbereitung in Deutschland in der ureinfachsten Weise betrieben wurde. Ja, noch heute giebt es hier und dort speculative Köpfe, welche nach einem vom Großvater geerbten Recept für ihren Hausbedarf und wohl auch für die nächste Umgebung eine blaßschwarze Flüssigkeit, sogenannte Tinte fabriciren. Dem Werthe dieses Fabrikats entspricht der zu seiner Herstellung benutzte Apparat – ein in irgend einem Winkel stehendes, mehr oder weniger schadhaftes Gefäß, in welchem seiner Zeit Galläpfel, Vitriol u. dergl. m. mit Wasser angerührt wurden und dessen Inhalt eine mächtige Schimmeldecke zeigt. Solchem Behälter entstammte auch die Flüssigkeit, die vor zwanzig Jahren den Tintenbedarf des von mir besuchten königlich preußischen Gymnasiums deckte, eine graue Tinctur, die nur den einen Vorzug hatte, daß der Lehrer auf den ersten Blick ersehen konnte, ob die Schüler ihre Arbeiten mit guter Tinte zu Hause oder in aller Eile während der Pause auf der Schulbank mit „Schultinte“ angefertigt hatten. Ich werde diese von der ehrwürdigen Gemahlin unseres nunmehr selig ruhenden Castellans fabricirte Tinte mein Leben lang nicht vergessen; denn sie hat mir zu gutem Theil zu der biconcaven Brille verholfen, die jetzt meine unzertrennliche Begleiterin in des Lebens Mühsalen und Freuden bildet. Wie mir ist es wohl Hunderten und Tausenden ergangen, und man darf sicher annehmen, daß den erschreckend großen Procentsatz an Kurzsichtigen der deutschen Nation nicht allein die Ueberbürdung mit Schulaufgaben, sondern auch jene „von des Gedankens Blässe angekränkelte“, der Hausindustrie entstammende Tinte verschuldet hat.

Der Unzulänglichkeit der alten deutschen Tinten-Recepte hatten wir es auch zu verdanken, daß noch kaum vor wenigen Jahrzehnten englische und französische Tinten den Weltmarkt beherrschten und in Deutschland selbst einen sehr großen Absatz fanden. Das war kein erfreuliches Industriebild in dem Lande der Dichter und Denker, welches unter den Consumenten der schwarzen Flüssigkeit obenan steht.

Bald jedoch trat eine Wendung zum Besseren ein. Muthig und lebensfroh raffte sich die deutsche Industrie auf und suchte auch auf diesem Gebiete ihre Gegner zu verdrängen; sie wurde darin besonders unterstützt durch die hohe Entwickelung der Chemie in unserm Vaterlande – heute sind wir schon in der Lage, mit vortrefflicher deutscher Tinte über Siege der deutschen Tinte zu schreiben.

Zunächst wurde das mit seinem Handel die ganze Welt beherrschende England auf’s Haupt geschlagen. Gegenwärtig sind die englischen Tinten von den deutschen Fabrikaten weit überflügelt und von dem deutschen Boden fast gänzlich verdrängt worden; denn im Jahre 1880 wurden beispielsweise bei uns nur noch 45 Doppelcentner englischer Tinten in einem Gesammtwerth von 1260 Mark eingeführt. Dann gelang es unsern Landsleuten, auch Frankreich in die Enge zu treiben, und wenn vor zwei Jahren unsere Nachbarn jenseits der Vogesen bei uns noch 1191 Doppelcentner Tinten für 33,348 Mark absetzten, so haben sie diesen Erfolg nicht etwa einer besseren Beschaffenheit ihrer Waare, sondern lediglich der eleganten Packung und Etiquettirung derselben zu verdanken. Dabei muß der deutsche Fabrikant unter den ungünstigsten Bedingungen mit dem französischen concurriren; denn Frankreich erhebt von den deutschen Tinten den sehr hohen Zoll von 16 Franken pro 100 Kilogramm, wogegen an der deutschen Grenze für dasselbe Quantum nur 3 Mark an Zollgebühren zu entrichten sind. Dabei wuchert in deutschen Köpfen noch gar üppig das blinde Vorurtheil, daß alles, was aus Frankreich und vor Allem aus Paris kommt, besser sein müsse, als das, was in Deutschland fabricirt wird, und leider ist es Thatsache, daß, während die bedeutendsten deutschen Tintenfirmen im Auslande höchst erfolgreich mit den Franzosen concurriren, sie gerade in Deutschland selbst mit diesen Concurrenten den härtesten Kampf zu bestehen haben.

Aber die kampflustige junge Tintenindustrie Deutschlands schrak vor allen diesen Schranken nicht zurück; sie begnügte sich nicht mit den auf heimathlichem Markte errungenen Vortheilen; sie warf vielmehr ihre Producte auch auf den großen bisher ihr verschlossen gebliebenen Weltmarkt, und auch hier wußte sie festen Fuß zu fassen und in den skandinavischen Staaten, in Rußland, in Südamerika und in Ostindien deutsche Tinte zu Ehren zu bringen. Wir führten bereits im Jahre 1880 gegen 2800 Doppelcentner Tinte und Tintenpulver in einem Gesammtwerthe von etwa 90,000 Mark aus. Das ist ein vielversprechender Anfang.

Aber die Lorbeerkränze, die goldenen Medaillen und die Ehrendiplome, mit welchen die deutschen Tintenfabrikanten auf den jüngsten Weltausstellungen ausgezeichnet wurden, waren nicht so leicht zu erringen, wie man noch allgemein zu glauben geneigt ist. Nur durch eine gewaltige Summe redlicher und unermüdlicher Arbeit wurde der gute Ruf dieser deutschen Fabrikate auf dem Weltmärkte begründet; denn der moderne Tintenfabrikant muß in den schwierigsten Capiteln der Farbenchemie durchaus sattelfest sein; er muß fortwährend weiter studiren und mit der Zeit vorwärts schreiten; er muß die Forschungsresultate der gelehrten Theoretiker auf ihre Verwendbarkeit in der Praxis prüfen, um nach einer langen Reihe von Versuchen zum Ziele zu gelangen und eine haltbare, leicht flüssige und farbenschöne Tinte herzustellen.

Es ist daher wohl die Pflicht eines Volksblattes, wie die „Gartenlaube“, solcher Errungenschaften des deutschen Fleißes ehrend zu gedenken und vor den Augen seiner Leser ein Bild der modernen deutschen Tintenfabrikation zu entrollen. Nur zu rasch sind wir Menschen von heute ja mit dem Tadel bei der Hand, wenn wir irgendeinen Fehler an dem so mühevoll hergestellten Präparate entdecken, vielleicht werden wir gegen den Tintenchemiker gerechter sein, wenn wir den Umfang und das innere Getriebe seiner Arbeit überschauen.

Zu diesem Zwecke hat sich der Verfasser dieses Artikels im Auftrage der „Gartenlaube“ bei einem Tintenchemiker eingeladen, der unter den auf diesem Gebiete Vorwärtsstrebenden in erster Linie genannt werden muß und der schon vor einer Reihe von Jahren ein heute nicht nur in Deutschland, sondern auch im Auslande in seiner Art einzig dastehendes Etablissement gründete. Wohl den meisten unserer Leser ist durch eine wohlrenommirte Fabrikmarke, die auf zahllosen Tintenflaschen und -fläschchen zu finden ist, der Name Eduard Beyer’s in Chemnitz bekannt.

Schon auf dem Bahnhofe jener sächsischen Fabrikstadt wurden wir von dem liebenswürdigen Herrn, der deutsche Tinte nach Wladiwostok in Sibirien und nach Peru, nach Tromsoe im hohen Norden und nach Melbourne im Süden Australiens verkauft, begrüßt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_731.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)