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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

„Wenn Curt zu Bett ist, kommen Sie wieder!“ sagte sie plötzlich. „Ich will Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen, Arndt.“

„Ich werde kommen. Sie würden mich sonst gar für einen trotzigen Knaben halten,“ sagte er tonlos, mit fast ausdrucksloser Stimme und ging. – – –

In seinem einsamen Stübchen angekommen, begann Arndt ein rastloses Wandern. Nur ab und zu blieb er plötzlich stehen und warf einen zerstreuten, glanzlosen Blick über die gleichgültigen Gegenstände seines Zimmers hinweg, gleichsam in die Ferne, als sei er ein Schiffbrüchiger, der vom Strande aus apathisch zusieht, wie draußen das Meer sein Fahrzeug verschlingt. Nach diesem starren Versunkensein wieder das ruhelose Wandern! Endlich sank er müde auf sein Sopha.

Hier saß er lange, ohne sich zu regen, blaß, mit geschlossenen Augen, Verzweiflung in den Zügen. Plötzlich sah er auf und murmelte einen Fluch zwischen den Lippen, wie ein Spieler, der Alles auf eine Karte gesetzt und sich verrechnet hat.

Als es zehn Uhr vorbei war, erhob er sich, um zu Henrietten zu gehen.

„Weiter, immer weiter im Leben!“ rief er resignirt. „Aber gottlob! der Rest meiner Tage wird immer kleiner.“




11.

„Ich hätte es wissen sollen,“ sagte er, als er bei Henrietten eintrat. „Es war ein unverzeihlicher Knabenstreich, den ich vorhin begangen habe.“

Sie erhob sich und sah theilnehmend in sein blasses, stolzes Gesicht.

„Nein,“ sagte sie; „es ist meine Schuld. Ich hätte Ihnen eher erzählen sollen, was ich Ihnen jetzt ...“ Ihre Stimme wurde immer leiser, und sie drückte seine Hand wie in schmerzlicher Verwirrung. „Arndt, unser jüngstes Gespräch,“ flüsterte sie, „hat die Todten in ihren Gräbern geweckt. Setzen Sie sich zu mir, und hören Sie mich an!“

Er that, wie sie wünschte, und nahm ihr gegenüber Platz, legte aber das Haupt zurück, sodaß sein Gesicht von dem Schatten eines hohen Schrankes gedeckt ward.

Henriette kämpfte mit sich selbst. Das Wort, mit dem sie beginnen wollte, ließ sich nicht auf die Lippe zwingen. Um sich zu beruhigen, legte sie die Hände in einander.

„Lassen Sie!“ sagte er, aufspringend, da sie noch immer nicht redete. „Erzählen Sie mir nichts! Schonen Sie sich!“

Er wollte gehen.

„Nein,“ warf sie ein und schlug die Augen voll zu ihm auf. „Sie sind mein Freund, Arndt – bleiben Sie! Sie sollen, Sie müssen mich hören.“

Da blieb er, und wieder setzte er sich, wie zuvor, in den Schatten zurück.

„Er war der Bruder von Auguste und Adelheid.“ sagte sie mit gesenkten Wimpern. „Ich hatte ihn schon als Kind gesehen und sah ihn dann wieder, als ich siebenzehn Jahre alt war. Er hatte alle Eigenschaften, welche einen Menschen glänzend und liebenswürdig machen. Und mehr als das, er war ein musikalisches Genie – und vielleicht auch ein poetisches – jedenfalls schrieb er Gedichte, die ich sehr schön fand. Von Beruf war er Kaufmann, und als wir damals vier Wochen lang neben einander auf dem Lande lebten, stand er im Begriff, nach Amerika zu gehen.“

Sie hielt einen Augenblick inne. Worte machen jede Erinnerung so plastisch, daß die Vergangenheit bei lebhaft fühlenden Gemüthern ohne Weiteres Gegenwart wird.

„Ja, Arndt, ich liebte ihn,“ fuhr sie mit bewegter Stimme fort, „und er liebte mich. Ich war damals jung, und er fand mich hübsch. Wir schwärmten mit einander – wir schwärmten von allem Schönen und Großen. Es war etwas in ihm, das nicht gut war. Schlecht war er nicht; nein, nein, das gewiß nicht! Aber er war egoistisch. – Adelheid sagte es mir noch an demselben Tage, an dem er mir seine Liebe gestanden – an dem Tage unserer Verlobung. Aber ich glaubte es nicht; wie hätte ich es glauben können, Arndt? Denn ich liebte ihn ja. – Er hatte dieselben schwarzen Augen wie Adelheid, aber sie waren weniger dunkel; denn sie hatten einen so ganz anderen Ausdruck: lichter, phantasievoller und ....“ hier sank ihre Stimme zu einem Flüsterton herab – „seltsam zerstreut. Aber der ganze Eindruck seiner Persönlichkeit .... Sie kennen .... Sie besinnen sich gewiß auf den antiken Hermes mit dem Flügelhut und den Flügelsohlen, der, leicht auf einem Felsen sitzend, nur eine Secunde lang zu rasten scheint – so sah er aus, Arndt.“

Wieder schwieg sie eine Weile; dann sagte sie gemessen:

„Er ging nach Amerika. Dort wurde er ein schlechter Kaufmann, aber ein großer Componist. Auch gab er Concerte in New-York, die einen Weltruf erlangten. Sie müssen von ihm gehört haben, Arndt; er hat in Amerika den Vatersnamen abgelegt und führt den Namen seiner Mutter. – Und in New-York hat er sich auch – verheiratet – mit einer viel genannten Concertsängerin. Ob er glücklich mit ihr geworden ist, weiß ich nicht; seine Schwestern reden nie mehr in meiner Gegenwart von ihm; – trotzdem scheinen mir oft Adelheid’s Augen zu sagen, daß er es nicht ist.“

Sie neigte sich gegen die Lehne ihres Stuhles zurück und blickte mit gedankenvollem Ernst vor sich hin, als vergesse sie eine Secunde lang, zu wem sie sprechen und daß sie überhaupt einen Zuhörer habe.

„Und Sie,“ fragte Arndt leise, „Sie lieben ihn noch?“

„Nein,“ sagte sie, „nein, Arndt, ich liebe ihn nicht mehr. Ich habe leben gelernt – ohne ihn, und es vergehen Tage, ja zuweilen Wochen, in denen ich gar nicht mehr an ihn denke. – Das ist keine Liebe mehr. Die Liebe zu ihm hat sich verwandelt in die Liebe zu meinem Sohne. Ich habe ihn nun schon längst über dem Kinde vergessen. – Doch – das ist vielleicht nicht ganz wahr, denn als ich den Knaben sah, war die Liebe zu ihm ja schon todt. – O! ich hätte es wohl nie geglaubt, daß wirkliche, wahrhaftige Liebe sterben kann, aber es ist so, Arndt; ein Hauch kann sie tödten; sie kann ausgeblasen werden wie ein Licht.“

Sie schauderte in sich zusammen und sagte in geisterhaftem Tone:

„Eine Andere – das war es – eine Andere!“ Dann richtete sie sich auf und fuhr zitternd fort. „Als ich es das erste Mal hörte, konnt’ ich es nicht fassen. Bis dahin hatt’ ich noch keinen Schmerz empfunden. – Nein .... es ist nicht mehr auszudenken, wenn es vorüber ist. – – Eine Andere – wie das klingt! – Verzweiflung ist eigentlich kein Schmerz mehr – Verzweiflung ist Wahnsinn – und ich hab’ es unzählige Male gefühlt, wie er aus dem tobenden Herzen emporkroch in die müden Gedanken – o, Arndt, Arndt – –“

„Doch die Verzweiflung athmet an ihrer eigenen Raserei aus,“ sprach sie nach einer secundenlangen Pause weiter. „Endlich – endlich werden die Gefühle dumpfer, und man schläft trotz aller Qualen ein. Ja – die Seele schläft – auch meine schlief. – Da las ich eines Tages nachträglich in der Zeitung seine Vermählungsfeier – und dabei erwachte ich wieder. Aber es war ein sonderbares Erwachen.“ – Sie stöhnte leise auf. „Denn gleichzeitig fühlte ich, daß Etwas in mir todt sei. – Nicht nur das Glück, auch die Liebe war gestorben. Todt, Arndt, todt – vollständig todt und vorüber! – – Die Welt im Ganzen kam mir merkwürdig unzusammenhängend und verblaßt vor – alle einzelnen Dinge aber interessirten mich wieder. – Es ist schauerlich – aber es ist so: die Liebe war erloschen – erloschen, wie ein Licht, an dem kein Fünkchen mehr glimmt.“

Und als sie so sprach, lag plötzlich auch etwas Todtes und Erloschenes in ihrem Auge, Etwas, das Arndt nie zuvor darin gesehen hatte, und sie hob die Hand wie in dumpfer Erinnerung gegen die Stirn, während ein eigenthümlicher Ausdruck von Abwesenheit über ihre ganze Erscheinung glitt.

Erst nach einer geraumen Weile sah sie ihn wieder an.

„Nicht wahr, Sie haben mich verstanden?“ fragte sie feierlich. „Aber – wir sind Freunde, Arndt! Nicht wahr?“

„Das Licht ist ausgeblasen, aber die Flamme kann wieder auflodern“ sagte er wie aus einem Traume heraus, „auflodern für einen Andern.“

„Für Andere – ja! Aber nicht mehr für einen Andern,“ antwortete sie sanft und traurig. „So Etwas erlebt man nur einmal.“

Sie schwieg wieder.

„Und Curt?“ fragte Arndt. „Was band Sie an Curt?“

Da kam eine wunderbare Bewegung über sie, und ihr Antlitz strahlte wie verklärt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_726.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)