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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Wieder war sie so Eins mit sich; wieder hatte sie Etwas gesagt, das so tief in ihrem innersten Wesen begründet war, daß sich Arndt fragte, ob eine solche Harmonie nicht gleichbedeutend mit Glück sei, und doch drängte sich gerade in diesem Augenblick jene verjährte Scene im Nachbarsgarten, da sie den Tod mit einem ausgeblasenen Lichte verglich und gewissermaßen zugab, daß der Mensch mehr als einmal sterben könne, in seine Erinnerung zurück.

Von Neuem sah er prüfend zu ihr auf, aber seine Gedanken verloren unterwegs etwas von ihrem forschenden Ernst, denn sein Blick blieb mit unruhigem Entzücken an ihren zart geschweiften Lippen hängen, auf denen noch immer ein hold beredter Ausdruck spielte, gleichsam als ob auf ihnen die verschwebenden Geister von allerlei sinnigen Gedanken geheimnißvolle Zwiesprach hielten.

Es war nicht das erste Mal, daß er sich dieser absonderlich lebendigen Schönheit Henriettes erfreute, aber es war doch das erste Mal, daß er sich ihrer so reflectirend bewußt wurde.

Dazu plätscherten leise die im Sande verrinnenden Wasser, und im zarten Wiederschein des Westens röthete sich der weite Osthimmel, um sanft in das spiegelnde Wasser hinabzuleuchten.

„Ja – hier ist es schön!“ sagte er und erhob unwillkürlich wieder den Blick zu Henriette, immer noch mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Der Gedanke an das Gewirr der Welt hatte ihr die Thränen in die Augen getrieben – wie anders dagegen empfand er! Was sie beängstigte, konnte ihn nicht erschrecken und noch weniger erschüttern. Der Kampf der Welt war ihm bisher seinen eigenen persönlichen Lebenslasten und Berufsleiden gegenüber wie etwas heilsam Großes erschienen, das Alle, welche Gefahr laufen, in kleinlichen Alltagssorgen zu versinken, mit stets lauter Drommete zum Kampf für allgemeine und deshalb höhere Interessen ruft.

Und doch – heute – angesichts dieser Natur und unter dem Zauber von Henriettes Nähe wollte es ihn wiederum als etwas unendlich Kleines bedünken. Was war der große Kampf auf dem Welttheater anders, als das Gewimmel eines Ameisenhaufens, dessen Volk sich mit rastlosem Eifer eine Welt erbaut, die ein Fußtritt des ewigen Schicksals vernichten und in Staubatome auflösen kann? All das sagte er ihr in lebhaften beredten Worten, und als er ausgesprochen, meinte Henriette:

„Wenn Ihnen das Weltgetriebe kleinlich .., nein! das ist nicht das Richtige! denn kleinlich kommt es freilich auch mir vor! – aber: wenn es Ihnen zu unbedeutend erscheint, als daß man darüber traurig sein könnte, wo wollen Sie dann die Kraft, die Geduld hernehmen, wieder eine Rolle in ihm zu spielen, was Sie als Mann doch müssen?“

„Eben aus den Nachwehen der heutigen Festtagsstimmung!“ antwortete er kühn. „Dieses ‚heute‘ natürlich in einem etwas weiten Sinne genommen.“

In diesem Augenblick trat Curt heran, und das Gespräch wurde durch die unvermittelten Aeußerungen des Knaben unterbrochen, und doch klang es, wie jede Unterhaltung mit Henriette, noch lange in Arndt nach.




8.

Mit hochgespannten Gefühlen stand der Architekt Arndt um die Dämmerung des letzten Abends vor seiner Abreise nach Norwegen an einer Bucht des Ufers, wo er Henriette und Curt zu einer kleinen Bootfahrt erwartete. Und noch einmal sagte er sich endgültig, daß ihn die Luft dieser Insel verjüngt habe.

Lebhafte Zukunftspläne traten vor seine Seele, seine Züge waren erregt, und sein Auge leuchtete in vollem Lebensmuth. – Was er von dieser Reise gewünscht hatte: Klarheit und feste Kraft des Entschlusses in jeder Beziehung – sie hatte es ihm gebracht. Seine Gedanken schweiften rasch und lebendig, wie seine Blicke, hin und her, richteten sich zuletzt aber hauptsächlich auf Eines: Arndt fühlte kein Bedürfniß mehr, einen Hausstand mit Erna Lepel zu gründen.

Der Umgang mit Henrietten hatte ihn gelehrt, daß es besser sei, frei zu bleiben, als sich ängstlich durch heilige Pflichten zu binden, denn er war sich in diesem Augenblicke vollkommen bewußt, daß es ihm werthvoller sein würde, Henriette zur Freundin seines Lebens, als Erna zur Gattin zu gewinnen, und damit war Alles, was ihn an dieses Mädchen gebunden hatte, ein für alle Mal abgethan.

Langsam und gedankenvoll schritt er am Ufer auf und nieder.

Allerdings, es gab etwas, das ihn in Henriettens Nähe nicht ganz frei athmen ließ – und doch ...!

Es dunkelte mehr und mehr am Strande. Abendschatten zogen über den ganzen Himmel, und nur am Horizonte blieb noch ein breiter Streife Tageslicht, zart in allen Regenbogenfarben leuchtend, zurück; er schlang sich wie ein verlorenes buntes Band, mit dem die sinkenden Sonnenstrahlen zu spielen schienen, halb heiter, halb wehmüthig um die abendlich stille See, deren Grün immer tiefer und eintöniger und darum immer milder und wärmer wurde. Die Schatten des Abends zogen, zitternd wie flüchtige Erinnerungen oder schwankend wie ein leiser, noch unausgedachter Zukunftsgedanke, über das schlummerweiche Wellenantlitz der See.

Arndt empfand die Poesie dieses Anblickes plötzlich wie eine ihm fremde, sehnsüchtige Rührung, die er, eben weil sie ihm fremd war, mit einer gewissen Neugier belauschte und lächelnd in sich gewähren ließ. Leise bebte sie in ihm auf und legte sich wie ein Bann um seine Glieder.

Da sah er Henrietten, mit Curt an der Hand, eiligen Schrittes auf ihn zukommen. Er blieb stehen und sah den Beiden entgegen.

„Bleibe bei mir – denn es will Abend werden,“ klang es traumverworren, wie ein ersticktes Flüstern durch seine weich gewordene Mannesseele, aber nein: eine Freundin konnte und wollte sie ihm vielleicht werden – nicht mehr! Was sollte ihm diese weibische, weichmüthige Regung?

Abend war es gewesen – die Nacht seines Lebens lag hinter ihm; ein frischer, freier Morgen tagte vor seinen Blicken.

Er hatte es vorhin gefühlt, und er fühlte es auch jetzt wieder: er besaß noch Kraft genug, den „Rest seines Lebens für sich zu retten“ und zu einem „schönen Ganzen“ zu erheben, wie Henriette sich selbst ausgedrückt hatte. – Wenn sie, ein zartes Weib, das gekonnt hatte ... aber da war sie ja wieder! Und wiederum war es ihr übermächtiger Einfluß, dem er, wie es schien, den Aufschwung seiner Kraft zu verdanken hatte!

Eine stolze Wolke des Unmuthes jagte über seine Stirn, und beinah unwirsch ging er Henriette entgegen. Doch als sie näher kam, verflog diese Wolke.

„Es ist spät geworden, verzeihen Sie!“ sagte sie schon aus der Entfernung. „Ich hoffte immer, Adelheid und Auguste würden noch mitkommen – aber sie scheinen heute bis in die sinkende Nacht gemalt zu haben.“

„Endlich!“ rief Curt, als Arndt ihm die Hand schüttelte. „Herr Arndt, ich dachte, Sie wären eine große Versteinerung geworden, als Sie vorhin immer so auf's Wasser starrten. Bitte, lieber Herr Arndt, Sie geben mir heute gleich das eine Ruder! – St! sagen Sie jetzt kein Wort – hören Sie nur einen Augenblick, wie das Wasser murmelt!“

„Ich hab’ es schon eine ganze Weile gehört,“ antwortete Arndt, „die Nixen singen thörichte Lieder.“

„Nein, sie haben Todtenfest und singen ein schönes Requiem für die Ertrunkenen,“ sagte der Knabe feurig und sprang dann mit einem wilden Jauchzen an Arndt und Henriette vorbei in’s Boot. „Ich hab’s! ich hab’s! Ich hab’ das eine Ruder, Herr Arndt!“ rief er triumphirend, und einige Minuten später glitt der Kahn, eine helle Furche ziehend, fast lautlos aus dem stillen Wasser dahin.




9.

Als sie von der Bootfahrt zurückgekehrt waren und das Fahrzeug nun wieder glücklich in seinem kleinen natürlichen Hafen lag, das heißt, zwischen einigen am Ufer sich erhebenden alten Steinblöcken, da war die Stimmung in der Natur eine ganz andere geworden. Ein lebhafter Südost blies über die See und regte sie zu immer wachsenden Wellen auf. Curt kletterte rasch über die Steine fort an den Strand, und Henriette wollte sich eben von ihrem Holzbänkchen erheben und ihm folgen, als Arndt, der noch mit dem Festmachen des Bootes beschäftigt war, fragte:

„Was hat Curt heute Abend? Ist ihm etwas Besonderes geschehen?“

„Er ist aufgeregt, weil Sie morgen abreisen,“ antwortete Henriette noch sitzen bleibend. „Ich kann Ihnen Etwas verrathen, das Sie freuen muß: er hat Verse auf Sie gemacht.“

„Verse? Wo sind sie?“ fragte Arndt.

Henriette lächelte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_711.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)