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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Da faßte der Knabe plötzlich ihren Arm und hielt ihn mit heftiger Leidenschaft fest, sodaß ihre Hand auf seinem Gesichtchen ruhen blieb.

„So ist’s schön,“ flüsterte er, und einige Minuten lang war es so lautlos still in dem kleinen dunklen Gemache, daß man deutlich unter den Fenstern das Anschlagen der See gegen das nahe Ufer vernehmen konnte; es klang unruhig träumerisch, bald leise flüsternd, bald voll aufrauschend.

Und ähnlich wie draußen die vom Halbschlummer der Natur umsponnenen Wellen mochten hier die Gedanken in einem Kindeshaupte auf- und abwogen.

„Mutter!“ rief der Knabe, als wäre er auf einmal aus dem Traume erwacht, „wie ist das? Ich las in dem Buche von Indien, die alten Brahmanen hätten geglaubt, das, was jetzt ist, die Welt und die ganze Erde, sei viel schlechter, als das Nichts, das vorher war; deshalb sagten sie: Brahm, ihre große Weltseele, schliefe jetzt und hätte früher gewacht. Mutter! und nun kann ich nicht einschlafen. Immer, wenn ich die Augen zumachen will, muß ich denken: ,Brahm schläft! Brahm schläft!‘ und immerzu: ‚Brahm schläft!‘ Mutter! und dann muß ich immer denken, Alles, was Du sagst und was ich sage, und was wir sehen und hören, das sind auch Alles bloße Träume. – O Mutter, Mutter, wenn der liebe Gott nicht schliefe, ließe er gewiß nicht so viel Unglück zu. Siehst Du?“

Henriette’s Hand, welche noch immer auf dem Haupte des Knaben lag, der sich jetzt hoch im Bette aufgerichtet hatte, zitterte.

„Du ängstigst Dich oft recht unnöthig, mein Sohn,“ sagte sie sanft. „Die alten Brahmanen dachten sich die Dinge anders, als sie sind. Gott schläft nicht. Wir brauchen gar nicht weit zu denken; wir wollen bei uns stehen bleiben. Hätte es Gott wohl klüger und besser machen können, als er es mit uns Beiden gemacht? Wenn ich nun nicht Deine Mutter geworden wäre, dann hättest Du Niemanden auf der weiten Welt, und wenn Du nicht mein Sohn geworden wärest, dann hätte ich auch …“

„Ja, ja,“ fiel der Knabe ein, „dann hättest Du auch Niemanden. Aber dann hättest Du vielleicht Jemand Andern – einen Mann, Mutter, der –“

„Nein, mein Sohn, den hätte ich nicht – und wenn Du erst groß bist, Curt, dann – –“

„Ja – ich freu’ mich auch auf’s Großsein,“ antwortete der Knabe lebhaft, „groß sein, ist noch mal so schön! – Herr Arndt, Mutter, das ist ein prächtiger Mann; Du sollst mal sehen. – Ich kannte ihn auch auf der Stelle wieder.“

Henriette lächelte dankbar; es war ihr wieder einmal gelungen, den erregten Geist des Knaben ohne Gewalt in das natürliche Bett kindlicher Enge zurückzudrängen. Als sie ihn nach einigen Augenblicken gleichmäßig athmen hörte, faltete. sie unwillkürlich die Hände und blieb noch eine Weile in Gedanken vor ihm sitzen. „Schlafe! Was willst Du mehr?“ flüsterte sie dann über seinem Haupte und erhob sich leise.

Sie trat an’s Fenster und horchte auf die gedämpfte, immer mehr und mehr in ein verworrenes Geplätscher übergehende Nachthymne der Natur.

„Brahm schläft!“ sagte sie unbewußt, dann aber schüttelte sie den Kopf und warf wie in plötzlichem Drange die Arme über das Haupt empor. „Nein, nein!“ flüsterte sie – „die Welt ist schön – und das Leben ist gut – wenn man nur will – und es glaubt.“ – – –

Um dieselbe Stunde – es war schon gegen Mitternacht – ging Arndt auf dem dunklen Strandwege zwischen den beiden benachbarten Dörfchen auf und ab.

„Uebermorgen!“ sagte er leise vor sich hin. „Uebermorgen!“ Er hatte wohl über zwei Stunden in seinem engen Wirthshauszimmer gesessen, indem er anfangs ein Werk über Norwegen vorgenommen, dann aber das Buch bei Seite geschoben und allerlei phantastische Zeichnungen zu einem „Schloß am Meere“ hingeworfen hatte.

Dabei war ihm das Schloß so mächtig vor die Einbildungskraft getreten, daß er noch hinausgehen und sich an Ort und Stelle ausmalen mußte, wie sich die mächtigen Strebepfeiler am Rande des steilen Ufers erheben und voll Trotz in die düster wallende See hinabsehen würden, gleichsam als sprächen sie zu den dumpf emporhallenden Wogen: Mächtig seid ihr, ihr Wellen, mächtig ist die Natur – aber mächtiger ist der Geist des Menschen in Wollen und Vollbringen.

„Man muß an sich glauben,“ sagte Arndt zu sich selbst, „sonst bleibt man ein Stümper. Glauben muß man wie die Kinder – und thun wie die Kinder. Denn wer ist thätiger als sie? Aufbauen, nur aufbauen und meinen, es hielte für die Ewigkeit. Mit einem Worte, man muß jung sein!“

Sicher wie am Tage schritt er immer weiter, am dunklen Ufer entlang. Seine Glieder waren noch rüstig und frisch, aber seine Phantasie wurde nachgerade träger, und wie eine versteckte Melodie rauschte ihm von Zeit zu Zeit das Wort „übermorgen“ aus den träumerische Variationen des Wassers auf.

Dann blieb er stehen und lächelte wegwerfend.

„Weiß Gott, Reisen wird eine Untugend, wenn man dabei sich selbst verzettelt,“ meinte er endlich. „Es geht mir mit dem Reisen wie den armen Schluckern, die lange nichts Gutes aßen, mit einem gehaltvollen Diner – sie vertragen es schließlich nicht mehr.“

Damit kehrte er entschlossen um und begab sich endgültig auf den Heimweg. –



6.

Curt’s Portrait war fertig. Der ungeduldige Junge hatte nach der letzten Sitzung das Weite gesucht, um seiner Mutter entgegen zu gehen, welche heute das vollendete Bild in Augenschein nehmen sollte. Arndt war mit den beiden Schwestern vor der Staffelei zurückgeblieben.

„Ich habe immer das Gefühl,“ sagte er, „als müßte sich dieser große, schön geschweifte Mund in der nächsten Secunde aufthun, um entweder das allernaivste Kindergeplauder oder irgend ein tiefsinniges, überreifes Wort hören zu lassen; mehr kann ich nicht sagen.“

Adelheid schwieg, war aber in fortwährender Bewegung vor dem Bilde, indem sie bald einen Schritt vorwärts, bald einen zurück trat, um die Wirkung des Portraits auf die verschiedenen Entfernungen hin zu prüfen; Auguste stand indessen in stummer Befriedigung auf einem und demselben Flecke und betrachtete das Bild ihrer Schwester von der Tiefe des Zimmers aus.

„Es muß eine höchst eigenthümliche Lebensaufgabe sein, diesen Knaben zu erziehen,“ nahm Arndt nach einer Weile wieder das Wort und zwar mit einem Blick auf Adelheid.

„Ja, ich würde dieser Aufgabe nicht gewachsen sein,“ sagte diese nachdrücklich.

„Frau Brandenburg ist früh Wittwe geworden, wie ich den Aeußerungen des Knaben entnommen habe,“ fuhr Arndt in halb fragendem Tone fort.

Doch Adelheid schien ihn diesmal zu überhören; denn sie trat vor das Bild und rückte die Staffelei, auf der es stand, mehr in die Mitte des Zimmers, ohne zu antworten.

„Ja, sie war erst einundzwanzig Jahre, als Professor Brandenburg starb,“ erwiderte Auguste an Stelle der Schwester.

„Ich kenne kein interessanteres Kind,“ bemerkte Arndt von Neuem. „Sieht der Knabe seiner Mutter ähnlich?“

„Das wissen wir nicht. Wir haben seine Mutter nicht gekannt,“ sagte wieder Auguste. „Die jetzige Frau Professor Brandenburg ist seine Stiefmutter. Sie haben sie ja wohl in Berlin schon gesehen?“

„Nur flüchtig und aus der Entfernung.“

„Nun, dann werden Sie in den nächsten Minuten den Vorzug haben, sie in der Nähe zu sehen.“

„Kennen Sie die Dame schon längere Zeit, mein gnädiges Fräulein?“

„Wie man’s nehmen will; wir kennen sie seit ihrer Kindheit. Wir kennen die Leute immer seit ihrer Kindheit, Herr Architekt,“ fügte sie lächelnd hinzu.

„Unter Umständen eine große Vergünstigung,“ meinte Arndt ebenfalls lächelnd.

„Wir finden das auch, und in diesem Fall gewiß. Nicht wahr, Adelheid?“

„Ja, gewiß,“ sagte diese flüchtig, begann eifrig ihre Pinsel zu waschen und verließ gleich darauf, als muthe diese Wendung des Gesprächs sie nicht an, das Zimmer.

„Ihr Fräulein Schwester scheint nicht gern von Frau Professor Brandenburg zu reden,“ bemerkte Arndt. „Ich bitte um

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_694.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2023)