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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Ueberhaupt werden die Familienfeste von den Bördebewohnern in fashionabler Weise begangen. So hatten z. B. zwölf Decorateure ganze acht Tage zu arbeiten, um den Saal zu einer Bauernhochzeit in Stand zu setzen, und höchst kostbar waren bei dem in Rede stehenden Feste die Geschenke.

Mir liegen ferner wählerisch gedruckte Speise- und Weinkarten und ebenso ausgestattete Tanzordnungen von Bauernhochzeiten der Börde aus den allerletzten Jahren vor. Schade, daß man Sprachlaute nicht bildlich darstellen kann! Sonst würde ich dem Leser an dieser Stelle ein Bild liefern, wie die Hochzeitsgäste Zungenverrenkungen übten bei Bezeichnungen wie Round of beef oder Beignets à l’Anglaise oder Bombe à la vanille resp. Palombe oder Potage pure de volaille. Auf der Magdeburger Messe hatten Hochzeitgeber im Circus künstlichen Schnee fallen sehen, und so fehlte natürlich in dem Hochzeitsprogramme die Einlage „Schneewetter“ nicht. Als die Rollschlittschuhwuth am ärgsten grassirte, konnte man auf Bauernhochzeiten in der Nähe Magdeburgs die gesammte geladene Jugend Fallübungen auf dem Skating-Rink produciren sehen.

Wie der Sinn für moderne Cultur, laut der mitgetheilten Beispiele, in der Börde im Wachsen begriffen ist, so schwindet das Interesse am Althergebrachten dort mehr und mehr: Sinn für Sagen und Volksmärchen existirt in dieser Gegend fast gar nicht mehr, und das Volkslied findet außer in der Schule keine Pflege. Möchte man doch einsehen, daß es hohe Zeit ist, die spärlichen Reste volksthümlicher Ueberlieferungen, der alten Sitten und Gebräuche, Sprüchwörter und Redensarten vor Untergang und Vergessenwerden zu retten! Lehrer und Geistliche haben das zum Theil auch erkannt und sind deshalb hier und da bereits an’s Sammeln gegangen, und daß dieses auch in der Börde sich noch lohnt, mag der nachfolgende Beleg aus dortigem Volksmunde darthun, der einigermaßen an Chamisso’s Riesenspielzeug erinnert:

Als der Magdeburger Dom erbaut wurde, half der große Halberstädter Roland, der ja noch bis auf den heutigen Tag am dortigen Rathhause steht, Steine herbei tragen. Eines Abends verspätete sich der Riese bei der Arbeit, und er mußte darum den Weg von Magdeburg nach Halberstadt in der Dunkelheit zurücklegen. Als er da über Egeln, eine kleine Stadt der Börde, hinwegschritt, gewahrte er die Thurmspitze nicht und stieß mit der kleinen Zehe seines linken Fußes dagegen. Die Zehe blutete ein wenig, und das Blut tropfte auf die Wiesen von Westeregeln. Von diesem Riesenblute nun, das nach unseren lilliputanischen Begriffen in Strömen darauf hernieder floß, ist alles Wasser und aller Boden der Wiesen dieses Dorfes noch röthlich bis auf den heutigen Tag.[1]

Noch eine andere Sage!

Bei dem Dorfe Borne befindet sich ein Hünengrab (vergl. unsere Abbildung S. 681). Dasselbe ist noch jetzt, nachdem es von den dortigen Bauern – um mit einem nicht gerade schmeichelhaft gewählten Ausdrucke des ortsgeschichtskundigen Pastors Winter zu reden – „vandalisirt“ worden ist, bei 5 bis 10 Fuß Höhe über 100 starke Mannsschritte lang. Der Natur der Gegend gemäß, welcher Kieselsteine und erratische Blöcke gänzlich abgehen, ist es von Erde hausdachartig mit einem Einschnitte am Südende aufgeschüttet. Im Hünengrabe haben, nach der Volkssage, Zwerge ihre Wohnstatt. Sie backen sich da unten selber ihr Brod, holen aber den Teig dazu frühmorgens von den Leuten in Borne.

Ein gut Stück Poesie sprudelt übrigens den Börde-Bewohnern noch aus einem andern Born als aus dem der Volkssage – nämlich aus den Kinderliedern, welche mit demselben Rechte, kraft dessen man die Sprüchwörter die Weisheit der Gasse nennt, wohl auf das Prädicat: Poesie der Gasse Anspruch erheben dürfen. Aus dem reichen Schatze, den wir in der Börde an Kinderliedern gehoben haben, möge hier nur eine einzige Probe mitgetheilt werden:

„Puije (schlafe in der Wiege), puije, Soldatenkind,
Schlaope, bet (bis) Dien Vader kimmt!
Vader sitt (sitzt) in Schenken,
Springt äwwer (über) Disch und Bänken,
Lett (läßt) de Gläser rummer (herum) gahn,
Lett Dien Puije (Wiege) stille stahn.“

Das überall verbreitete Bedürfniß kleinerer Ortschaften, sich unter einander zu necken, scheint in der Magdeburger Börde das Dorf Borne ganz allein befriedigen zu müssen, wobei es aber nur eine passive Rolle spielt.

An der Dorfstraße in Borne sprudelt aus einer klaren Quelle vortreffliches Trinkwasser hervor. Die Quelle nennt man den Bornschen Spring, und redet man seinem erfrischenden, kühlen Wasser nach, daß es dumm mache. Weit und breit heißt es darum: „In Borne sind sie dumm.“ Kein Einwohner des Ortes giebt sich draußen gern als solchen zu erkennen, und Jeder will aus Bisdorf sein, welches mit Borne geographisch eine Ortschaft bildet. Neuerdings scheint man jedoch Bisdorf in Betreff dieses Bornschen Erbübels in Mitleidenschaft gezogen zu haben. Hörte ich doch jüngst die „Kahlen“ (kleinen Kinder) Straße auf und ab ganz vergnüglich singen:

„Rum, rum, rum!
In Borne sind sie dumm.
In Bisdorf sind sie ganz verrückt;
Da hat der Knecht den Herrn geschickt.“

Einige sprüchwörtliche Redensarten der Bördedörfler sind von erfrischender Natürlichkeit. Zum Beispiel von einem Trägen sagt man:

„Der denkt auch, unser Herrgott guckt alle Jahre einmal vom Himmel herunter, und wen er dann bei der Arbeit sieht, der muß immer arbeiten.“ In Gedanken setzt man hinzu: „Darum arbeitet er an keinem einzigen Tage im Jahre; nun mag der Herrgott gucken, wann er will – ihn sieht er dann niemals an der Arbeit.“

Die Bördedörfer haben meist eine beträchtliche Einwohnerzahl, die sich selten unter Tausend bewegt, meistens aber zwei, drei, ja vier Tausend erreicht. Eigenthümlich baut man in diesen Dörfern: da dort Holzarmuth herrscht, so sind alle Häuser massiv, und als Baumaterial hat man früher fast ausschließlich Bruchsteine verwandt, die mit Kalk, oft recht primitiv, verputzt worden sind. Bei den alten Häuschen scheint das Strohdach den winzigen grauweißlichen Unterbau jeden Augenblick niederdrücken zu wollen. Die neueren Gehöfte mit den pompösen Einfahrten und den stattlichen Wohnhäusern heben sich dagegen vortheilhaft von den zusammengeklebten alten Gebäuden und niedrigen Häuschen ab. Die Ortschaften sind geschlossen. Nur an den alten großen Verkehrsstraßen, wie an der Magdeburg-Leipziger Chaussee, stehen Einzelgehöfte, in denen Gastwirthschaft betrieben wurde und hier und da noch betrieben wird. Stundenweit sind die Dörfer von einander entfernt, und wohl keine Gegend Deutschlands hat bei gleich starker Bevölkerung so weit von einander liegende Dörfer, Flecken und Städte aufzuweisen. Aber auch hier war in früherer Zeit die weite Feldmark mit Einzelgehöften in eben der Weise übersäet, wie noch heute in einem Theile von Westfalen und am Niederrhein. Die Bewohner zogen im Laufe der Zeit näher zu einander, und es entstanden so kleinere Dörfer.

Kaum irgendwo giebt es so viele wüste Dorfstätten wie hier; finden sich deren auf vielen Feldmarken doch bis zu einem halben Dutzend. Bei Borne ragt als solch ein einsames Denkmal eines untergegangenen Dorfes der stark verwitterte Rest eines Kirchthurmes gegen 80 Fuß in die Höhe (vergl. das Initial am Anfang dieses Artikels). Das Dorf, zu dem er gehörte, hieß Nalbke und wird als wüste Stätte urkundlich schon 1509 erwähnt. Auch knüpfen sich einige Sagen an diese Ruine: wer an dem Thurm um Mitternacht der Jahreswende einen ganz schwarzen Kater trägt, der wird dort den leibhaftigen Gottseibeiuns treffen. Der tauscht ihm dann den Kater gegen ein blinkendes Geldstück um, welches für alle Zukunft immer wieder sofort in die Tasche der betreffenden Person zurückwandern wird, mag sie es ausgeben, so oft sie will. Leider ist das Geschäft mit dem „rothen Heinz“ aber nicht ohne Gefahr für Leib und Leben. Bringt ihm nämlich Jemand einen Kater mit einem einzigen weißen Härchen im Pelze, so ist’s um den Hals des armen Menschen geschehen. – –

Aber nicht nur über der Erde bietet die Magdeburger Börde manches interessante Denkmal vergangener Zeit – auch unter dem Erdboden fand man dort Zeugen aus alten Tagen; denn während man früher der Ansicht war, die Börde sei an Denkmälern der Cultur vergangener Zeiten vollständig arm, hat ein eifriger Sammler, Lehrer Rabe in Biere, auf der Berliner Alterthumsausstellung die Gelehrten vom Gegentheil überzeugt. Aus Kiesgruben der Umgegend Magdeburgs legte er Funde vor, die unstreitig

  1. In der „Edda“ heißt es:

    „Eikthyrnir heißt der Hirsch vor Heervaters Saal,
    Der an Lärad’s Laube zehrt;
    Von seinem Horngeweih tropft es nach Hvergelmir,
    Davon stammen alle Ströme.“
     (Simrock’s Uebersetzung, Seite 17.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 682. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_682.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2023)