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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

mehr selbstsüchtigen Regung; war es das dunkle Gefühl, daß er, der bisher nur für Andere gelebt hatte, nun auch ein Herz sein eigen nennen wollte, das für ihn lebte? Der lieblich bewegte Flammenschein des häuslichen Herdes gaukelte zuweilen in heiteren Bildern durch seine Seele.

Alles das gestand er sich auch jetzt. Und – mochte er nun Erna Lepel leidenschaftlich lieben oder nicht: – sollte das überhaupt nöthig sein ....? Ja, vielleicht war es gar nicht einmal wünschenswerth. – – –

Er hatte bisher noch nicht geliebt; – und höchstens seine Phantasie hatte sich einmal lange – es war wohl Jahr und Tag gewesen – mit einer Frau beschäftigt – – –

„Doch hinaus aus dieser hölzernen Hütte, diesem Gedankenkasten!“ unterbrach er sich selbst, indem er, beinahe lächelnd, die Wände der kleinen Strandhütte betrachtete. „Der Regen scheint endlich abzuziehen.“

Eben wollte er Plaid und Hut von der Wand nehmen, als sein Blick auf einen groß und leserlich an die Bretter verzeichneten Namen fiel. Daß der Eigenthümer desselben ein noch unreifer Knabe war, konnte man wohl daraus schließen, daß er mit leuchtendem Rothstift geschrieben und mit allerlei symbolischen Initialien und Endschnörkeln in kindlicher Weise verziert war.

Arndt stutzte und starrte einige Secunden auf die Wand.

Doch er war des Nachdenkens müde.

„Wer sich mit Räthseln abgiebt, dem wachsen die Räthsel entgegen wie Hydraköpfe!“ meinte er unwillig und trat in’s Freie hinaus. Aber seine Gedanken gewannen damit nicht sogleich eine andere Richtung.

„Curt Brandenburg!“ sagte er laut vor sich hin und beschrieb mit seinem Wanderstabe einige weite Kreise in der Luft. Dann schritt er mit willenskräftiger Eile, wie Jemand, welcher findet, daß er sich zu lange mit sich selbst aufgehalten hat, von Neuem vorwärts.

Im Süden theilte sich die letzte Wolkenmauer. Sonnenstrahlen fielen schräg über die Dünen auf den Sand; fern im Westen dämmerte der Wald hervor, und ein weiches, verlorenes Grün schimmerte lebenverkündend durch die graue See. Flüchtig wie ein eilender Bote des Lichts wurde es bald hier, bald dort sichtbar und schlängelte sich in tausend flüchtigen Formen durch die mit weißen Schaumkränzchen geschmückte Fluth.

Arndt dachte, indem er weiter schritt, an Curt Brandenburg und an dessen Mutter. Während er seinen Weg nicht ohne schließliche Anstrengung auf dem vom Regen noch weichen Sandboden fortsetzte, erwachte in ihm eine Erinnerung nach der andern.

Merkwürdig, daß er heute, nach Jahren, auf einer entfernten Insel den Namen des Knaben lesen mußte! Und noch dazu in dem nämlichen Augenblicke, da ein flüchtiger Gedanke das früher einmal so lebhaft von ihm erfaßte Bild von Curt’s Mutter gestreift hatte – jenes Bild, das mit allen seinen Reizen und seiner feinen Individualität ihn einst monatelang beschäftigt. Der Zufall hatte da ein wunderliches Spiel mit ihm, dem ernsten Manne, getrieben.

Doch jeder anhaltenden Träumerei durchaus ungewohnt, blieb jetzt Arndt auf einmal förmlich befremdet stehen: ihm war, als habe sich die Landschaft um ihn her wie mit einem Zauberschlage verändert; denn ganz mit seiner Innenwelt beschäftigt, hatte er jenes Ringen von Licht und Schatten, jenes Wallen und Ziehen am Himmel und auf Erden, kurz, alle jene drastischen Schönheiten des Uebergangs von einer Naturstimmung in die andere übersehen.

Der Himmel strahlte jetzt im reinsten Azurblau, und die kühn aufgebauten Wolken am Horizont leuchteten silberhell über die lachende See und schienen in selbstbewußter Heiterkeit die stolzen Leiber in die freien Lüfte hinauszurecken.

Die Dünenkette lag bereits weit zurück, und während die Sonne unten auf dem Meeresgrunde unermüdlich ihre feinmaschigen Goldnetze zog, so oft auch eine heranplätschernde Welle ihr dieselben wieder zerreißen mochte, floß das Licht über die hohen Uferwände, welche sich nunmehr zur Linken des Wanderers erhoben, in breiten, sanften Strömen, sodaß ihre feuchten, tiefschluchtigen Hänge auf den buntsteinigen Strand herabschimmerten, als wären sie mit weichem, stellenweise schön gefaltetem Sammet umkleidet.

Arndt legte die Arme fest in einander, reckte sich, tief aufathmend, in die Höhe und sah lange um sich. Ihm ward zu Muth, als tränke er in diesen Augenblicken einen feierlichen Verjüngungstrank.

Dann – nachdem er eine gute Weile so gestanden hatte – bog er in einen kleinen Fußpfad ein, welcher sich das hohe Ufer hinaufschlängelte, warf, oben angekommen, noch einen letzten Blick auf die weite, leuchtende Meeresfläche zurück und wandte sich schnell landeinwärts, um geraden Weges auf das kleine Stranddorf loszuschreiten, welches das nächste Ziel seiner Wanderung war.




3.

Im Speisezimmer des freundlichen Gasthofes zum „Schwarzen Seehund“ war es fast leer. Die meisten Badegäste, welche sich zur Zeit in dem Dörfchen aufhielten, dessen vornehmstes Local eben jener Gasthof war, hatten bereits früh zu Mittag gegessen, um ihren weiteren Tagesvergnügungen entgegenzueilen. So konnte sich denn die Sonne ungehindert auf dem schönen „eigengesponnenen“ Tischtuche breit machen, welches seiner ganzen Länge nach über der Haupttafel des Zimmers ausgespannt lag, obgleich nur noch an ihrem obersten Ende und zwar von einer einzigen Person gespeist wurde. Diese einzige Person war Herr Architekt Arndt, dem man hier nachträglich aufwartete und dem die Fürsorge der Wirthsleute nach seinem anstrengenden Marsche ganz ausnehmend wohl zu thun schien.

Der Wirth selbst, eine breitschulterige, ziemlich untersetzte Insulanergestalt, saß in unmittelbarer Nähe des Gastes rauchend am Fenster und sorgte für die Unterhaltung, so oft sich seine Frau entfernte, um ein frisches Gericht hereinzubringen. Er sprach wenig, aber seine Erscheinung war so originell, daß ein flüchtiger Blick auf dieselbe mehr Anregung und Zerstreuung bot, als ein stundenlanges Gespräch mit manchem Andern zu thun vermag: mit beiden Händen in den Hosentaschen, lag er mehr auf dem Stuhl, als daß er saß, und gab durch diese Haltung untrüglich zu erkennen, daß er vor Uebernahme des „Seehunds“ Schiffer gewesen war. Noch eigenthümlicher als seine nachlässige Stellung war sein höchst charakteristischer Kopf; jede Falte seines gelbbraunen, über und über runzligen Gesichtes verrieth einen ausgesprochenen Schifferhumor, und das dreist überlegene Lächeln seines breiten, etwas schief geschlitzten Mundes, sowie der lebhafte, halb schlaue, halb gutmüthige Ausdruck seiner Augen waren von besonderer Art.

Arndt hätte keine angenehmere Tischunterhaltung haben können, als den Anblick dieses Mannes, der größtentheils schweigend die „Honneurs“ machte und jeden beobachtenden Blick mit einem wohlgefälligen Blinzeln zurückgab, das nicht nur eine sehr ungenirte Gegenbeobachtung ausdrückte, sondern auch zu sagen schien: „Ick glöv woll, dat ick Die gefall! so ’nen Kierl as mie seh’n de Binnenländschen nich alle Daag.“

Redseliger als der Alte war offenbar die kleine blaubebrillte Wirthin, welche, sich einer „höheren“ Schulbildung erfreuend, ihrem neuen Gaste schon während der Suppe in sehr gespreiztem Hochdeutsch ihre eigene Lebens- und Familiengeschichte berichtet, sowie diejenige der verschiedensten Badegäste des Dorfes angedeutet hatte.

Soeben trat sie mit dem Braten ein, und Arndt erwartete mit ziemlicher Bestimmtheit nun auch den Namen „Brandenburg“ von ihr zu hören, als eine lebhafte Bewegung des Wirthes seine Aufmerksamkeit von der behende herantrippelnden Frau ablenkte.

„Rieken!“ sagte der Alte, mit dem Daumen über die Schulter fort nach draußen zeigend, ohne seine sonstige Stellung zu verändern.

Arndt sah hinaus und bemerkte, daß zwei nicht mehr junge Damen auffallend eiligen Schrittes am Fenster vorüber gingen.

„So hild (eilig) hebben de dat ümmer!“ fuhr der Wirth, zu Arndt gewandt, fort, schwieg dann wieder und blinzelte seinen Gast herausfordernd an.

„Wohnen die Damen hier bei Ihnen?“ fragte dieser mit der müßigen Neugier des Reisenden.

„Nein, aber sie nehmen hier ihre Mahlzeiten ein,“ erwiderte die kleine Wirthin, gewandt die Unterhaltung an sich reißend. „Und da sie schon so langjährige Kunden sind, Herr Architekt, nehmen wir Rücksichten und stellen das Essen warm, so lange es irgend gehen will. – Zuweilen freilich hat es große Bedenklichkeiten für eine Hausfrau, die doch stets –“

Die Zungenfertigkeit der gebildeten Rügianerin wurde kurz

abgeschnitten; denn die Thür eines Nebenzimmers öffnete sich hastig,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 674. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_674.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)