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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Plötzlich hielt der nun ziemlich athemlose Knabe in seinem Spiel inne, blieb vor ihr stehen und fragte:

„Wenn man stirbt, hat man dann auch noch Athem?“

„Nein, Kind!“

„Sag’ mir mal, wie das ist beim Sterben!“ bat er lebhaft.

„Die Seele verläßt den Körper und steigt in den Himmel.“

„Ach! Was ist das – die Seele?“

„Alles, was in Dir nachdenkt, was in Dir traurig ist und sich freut, das ist Deine Seele,“ antwortete die junge Frau und blickte aufmerksam in die strahlend auf sie geachteten Augen des Kindes. „Die Seele ist das Licht, welches das Haus hell macht und aus Deinen beiden Augen herausleuchtet,“ fuhr sie dann fort. „Ja, so ist es; – gieb mir einen Kuß, Curt!“

Diese letzten Worte hatte sie ganz leise gesprochen – sie war leidenschaftlich bewegt.

„Mehr! Erzähl’ mir mehr vom Sterben, Mama! Jeder Mensch stirbt doch blos ein Mal, nicht wahr?“ fragte er dann plötzlich.

Da erblaßte die junge Frau und hob langsam den Kopf. Dann legte sie leise ihre Hand auf die Schulter des Kindes.

„Ja, nur einmal; es ist, als ob ein Licht ausgeblasen wird,“ sagte sie eigenthümlich kalt.

„Mama! Wer bläst denn das Licht aus? Der liebe Gott?“

Sie antwortete nicht und strich gedankenversunken mit der flachen Hand über ihre Arbeit. Da half sich der Knabe selbst.

„Ja, der liebe Gott thut’s,“ rief er. „Der liebe Gott mit seinem langen, langen Athem. O, so lang – so lang, ganz lang! Und dann stirbt der Mensch, und dann geht’s mit einem Ruck in den Himmel. – Weißt Du noch mehr vom Sterben, Mama?“

„Nein, Curt.“

„Ach, sag’ doch!“

„Curt!“

Beschämt schlich der Knabe davon, aber er konnte sich nicht völlig beherrschen; noch einmal drehte er sich um.

„Ich möcht’s doch so schrecklich gerne wissen.“

„Hast Du mich lieb?“ fragte sie mit sanftem Vorwurf, und kaum hatte sie es ausgesprochen, als das ungestüme Kind mit lautem zärtlichem Aufschluchzen in die Arme seiner Mutter stürzte. – –

„Es ist, als ob ein Licht ausgeblasen wird.“

Arndt konnte in den folgenden Wochen diese Worte gar nicht wieder vergessen und wußte nun gewisser als zuvor, daß es etwas in dem Leben seiner Nachbarin geben müsse, das sie erst zu dem gemacht hatte, was sie jetzt war.

Aber abgesehen von der eigenthümlichen Bedeutung, welche sie selbst diesen Worten zu geben schien und die auch er sofort nachempfunden hatte, erhielten dieselben bald einen besonderen Werth in seiner Erinnerung, waren sie doch so ziemlich das Letzte, was er zur Zeit von seiner interessanten Nachbarin hören sollte.

Dagegen trat ihm der Knabe noch einmal näher, ja kam sogar auf originelle Weise in persönliche Berührung mit ihm.

Die Jahreszeit war schon bis an die Grenze von Sommer und Herbst vorgeschritten, als Arndt an einem sonnigen Nachmittage in Erwartung eines Geschäftsfreundes hastig den kleinen, ihm nachgerade ganz vertraut gewordenen Garten auf- und niederschritt. Plötzlich flog ein bunter Ball vor ihm auf den Kiesweg und rollte in die vom Regen der verflossenen Nacht herabgeschlagenen Blätter. Gleichzeitig wurde es im Nebengarten lebendig.

„O Mama, mein Ball, mein Ball!“ rief der Knabe, während Arndt den verlorenen aufhob, „er ist in den fremden Garten geflogen!“

Arndt hielt den Ball in der erhobenen Rechten; er mußte lächeln über ein seltsames Gefühl von Feierlichkeit, das sich seiner bemächtigte. Geberdete er sich nicht, als ob das bunte Kinderspielzeug in seiner Hand eine kleine aus ihren Bahnen gestürzte Welt sei? Noch eine Secunde zögerte er; dann warf er schnell den Ball hinüber.

„Danke!“ jubelte es sofort helltönig auf. „Bist Du auch ein Junge oder bist Du ein Herr?“

„Ein Junge!“ rief Arndt neckend.

„Ha! Das ist nicht wahr. Du hast so eine Brummstimme,“ antwortete der übermüthige Kleine, diesmal mit Absicht den Ball über das Gebüsch fortschleudernd.

„Hoho!“ rief Arndt, ihn wieder zurückwerfend, und so flog das Ding eine gute Weile unter dem beständigen Gelächter Curt’s hinüber und herüber.

Endlich, als sich der Ball wieder einmal in Arndt’s Händen befand und er eben im Begriff war, ihn auch diesmal zurück zu befördern, rief Curt:

„Nein, nein! Ich komm’ und hol’ ihn mir selbst.“

„Desto besser, kleiner Nachbar!“ antwortete Arndt ermuthigend.

„Mama, ich will! – Soll ich? Ach ja! Es macht so schrecklich viel Spaß: Selbst holen, bitte, bitte!“

Die Mutter schien flüsternd ihre Erlaubniß zu ertheilen, und einige Minuten später empfing Arndt den Knaben am Eingange seines Gärtchens, wohin er ihm entgegen gegangen war. Der Kleine kam eilig herangelaufen, als er aber dem fremden Manne gegenüberstand, wurde er doch vor plötzlicher Verlegenheit dunkelroth.

„Nun?“ sagte Arndt, „es freut mich sehr, daß Du mich besuchst. Komm herein! Warum wolltest Du Deinen Ball denn so gerne selbst abholen?“

„Ha! Ich wollte wissen, wie Du aussiehst!“

„So? Nun, wie gefalle ich Dir denn?“

„O – sehr schön. – Bist Du schon sehr alt?“

„Fünfunddreißig,“ antwortete Arndt außerordentlich amüsirt.

„Und wie alt ist Deine Frau?“

„Ich habe keine. Aber Du, man kleiner Nachbar, hast gewiß Brüder? Wie?“

„Nein! Ich bete immer, Papa soll mir einen schicken, aber er thut’s nicht.“

„Wo ist denn Dein Papa?“ fragte Arndt lebhaft.

„Im Himmel! Schon bald zwei Jahre!“

Arndt war gedankenvoll stehen geblieben. Eine weitere Frage schwebte ihm auf den Lippen; doch in demselben Augenblicke sah er von der Straße her den erwarteten Freund herantreten, und kaum hatte er nach so viel Zeit, sich nach dem Namen des Kleinen zu erkundigen, ihn herzlich zu verabschieden und zu einer baldigen Wiederholung seines Besuches einzuladen, welche Curt auch auf das Eifrigste zusagte.

Es war Arndt Ernst mit seiner Aufforderung an das Kind gewesen, und als mehrere Tage vergingen, ohne daß sich dasselbe bei ihm blicken ließ, wurde er eigenthümlich enttäuscht; durch die Berührung mit dem Knaben und mittelbar mit seiner Mutter war etwas wie ein idealer Hauch in das hastige Treiben seines abstumpfenden Geschäftslebens gekommen, und er hätte gern mehr von diesem Hauche genossen, um ihn heimischer in sich werden zu lassen. Seit er wußte, daß seine Nachbarin Wittwe sei, war vielleicht seine Sympathie für sie um ein Geringes kühler geworden; denn es berührte ihn fremdartig, daß in ihrem Wesen keine unausgefüllte Lücke zu bemerken war. Mochte die junge Dame auch vorzugsweise ernst gestimmt sein, immerhin hatte ihr augenblickliches Sein etwas durchaus Harmonisches – weder etwas Zerrissenes noch etwas Gedrücktes, und eben das widerstrebte seiner energischen Empfindungsweise. Dagegen war das ungewöhnlich lebhafte objective Interesse, welches seine Nachbarin von vornherein in ihm erweckt hatte, nur noch gewachsen, seit jenes psychologische Räthsel, das ihr ganzes Auftreten umwebte, ihm durch die Enthüllung des Knaben unauflösbarer denn je erscheinen mußte. Ja, er gab sogar zur Zeit diesem Interesse so weit Raum, daß er eines Tages wirklich im Begriffe stand, der Dame geradezu seinen Besuch zu machen, indem er sich Formgewandtheit genug zutraute, sein im Uebrigen unbegründetes Erscheinen als eine dem Kleinen geltende Gegenvisite hinzustellen, und nur das unvermuthete Dazwischentreten des Knaben selbst hinderte ihn an der Ausführung seiner Absicht. Curt begegnete ihm nämlich, als er bereits im Begriffe war, in das Nachbarhaus einzutreten. Auf Arndt’s Frage, warum er noch nicht wieder bei ihm gewesen, erwiderte der Kleine unbefangen:

„Mama sagt, ich hätte nichts bei dem unbekannten Herrn zu suchen.“

Diese Antwort war natürlich entscheidend für Arndt; ebenso schnell, wie er gekommen war, kehrte er wieder um.

„Schade,“ dachte er bei sich selbst; „sehr schade! – Man begegnet so selten interessanten Leuten – immer sind es dieselben Dutzendausgaben – und hier … es soll mich doch wundern, was aus diesem Knaben wird.“

Auch würde er gern noch erfahren haben, ob die Dame wirklich die leibliche Mutter Curt’s sei. Er bezweifelte es zuweilen; denn er meinte, gegen sein eigen Fleisch und Blut wäre Niemand von so aufopfernder Geduld, wogegen wohl eine edle

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_655.jpg&oldid=- (Version vom 2.5.2023)