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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Es war eine Art collegialischer Handlung, und als sie endlich zu den Ihren zurückkehrte, war sie durch dieses kleine Ereigniß ganz ernst geworden, und die Tante hatte nicht mehr nöthig, ihren Uebermuth zu zügeln.

Wenn die Sonne hinter den Bergen versunken ist und die Nebel des Abends sich mächtig zur Erde senken, wird es auf dem kleinen Eiland gar kühl, und so trennten sich denn die Reisegefährten bald, um sich zur Ruhe zu begeben. Mimi ihrerseits war sehr mit dem frühen Aufbruch zufrieden; einmal war sie das frühe Schlafengehen ja gewöhnt, und dann hatten die vielen Eindrücke dieses Tages, die sie mit der ganzen Lebhaftigkeit ihres Temperamentes in sich ausgenommen hatte, sie müde gemacht.

So war es ihr denn ga nicht recht, daß ihre Zimmergenossin, Schwester Bertha, noch so viel Lust zum Plaudern zeigte. Diese setzte sich herablassend auf das Bett der kleinen Schwester und begann sie förmlich zur Vertrauten zu machen, indem sie ihr erzählte, daß Tante Waldenburg den Plan zu haben scheine, den schönen jungen Vetter für Elfrieden zu gewinnen, daß sie, Bertha, aber schon jetzt überzeugt sei, daß der Schwester übergroße Reizbarkeit durchaus nicht für das frische, lebensvolle Naturell des Jünglings tauge, daß für ihn im Gegentheil eine Frau nöthig sei, die frisch und lustig, pikant und talentvoll sei, und daß Mimi sich ein großes Verdienst erwerben könne, wenn sie dem Vetter die Vorzüge der zweiten Schwester in’s rechte Licht setzen würde.

„Du bist ein Kind,“ meinte Bertha, „aus Deinem Munde klingt ein Lob so viel harmloser, als aus dem der erwachsenen Leute. Dein Schade sollte es nicht sein, wenn ich Waldenburg heirathe. Du bekämst dann eine Heimath, die weit angenehmer wäre, als wenn Elfriede sie Dir böte; denn sie ist launisch und wird ihrer Umgebung bald zur Last. – Aber gescheidt mußt Du es machen, Kleine, kein Wörtchen direct von mir sprechen, sondern nur so ganz obenhin, so wie zufällig, wenn die Gelegenheit es giebt. – Vor allen Dingen suche zu erfahren, ob die Tante sich nicht täuscht, ob Waldenburg überhaupt noch frei ist und auch wirklich die Absicht hat, sich zu vermählen! Das Weitere besprechen wir alsdann. Nun gute Nacht, mein Täubchen! Du hast mich verstanden, nicht wahr?“ –

Wie aber wäre Bertha erschrocken, wenn sie geahnt hätte, welchen Ideengang ihr Vertrauen in dem „Kinde“ erweckt hatte!

Belehrte doch bereits der erste Blick in die Welt Mimi, daß diese himmelweit verschieden von der Welt war, die sie aus Büchern kannte. Wie oft hatte sie von den Kämpfen gelesen, die liebende Ritter mit Riesen, Ungeheuern und Schrecknissen aller Art zu bestehen haben, um die Geliebte ihres Herzens zu erobern; wie gern hatte sie von den Troubadouren und Minnesängern gehört, die nur der holden „Herrin“ zu Liebe Sangesruhm und Ehre erwerben wollten und dann als höchsten Lohn einen Kranz aus schöner Hand erstrebten! Und wenn dann Mimi aus dieser Welt der Poesie einen Ausblick gewagt hatte in’s wirkliche Leben, da waren ihr die jungen Mädchen noch immer wie jene Heldinnen erschienen, die scheu und sittig von fern standen, dem Kampfe, der um sie gekämpft wird, klopfenden Herzens zuschauend und sich dem Sieger mit holder Demuth und sittlicher Verschämtheit entgegenneigend. Wie aber sahen diese schönen, glänzenden Bilder in der Nähe aus? Die Nüchternheit des hellen Tageslichtes löschte sie aus. Bertha’s voreiliges Vertrauen hatte grelle Schlaglichter in die Wirklichkeit geworfen. Es gab keine Ritter mehr, die für die Farbe ihrer Dame in Noth und Tod zogen; es gab nur noch moderne, heirathslustige Mädchen, die selbst die Initiative ergriffen, um – eine gute Partie machen zu können. – „Eine gute Partie,“ diese Worte hatte Bertha mehrmals ausgesprochen. Und es schickte sich, daß ein Mädchen ohne Erröthen davon spricht, einen Mann zu erobern, der vielleicht noch mit keinem Gedanken seiner gedacht hat? Und das war weiblich? Während man sie, die Unerfahrene, ausgescholten hatte einer Freundlichkeit halber, bei der sie sich doch gar nichts gedacht hatte?

Mimi’s Gedanken wirbelten durch einander.

„Ach Gott, wie ist die Welt doch so anders, als ich dachte! Wie schwer ist es, sich in sie zu finden und es Allen recht zu machen! Ich fürchte, ich fürchte, dazu werde ich überhaupt das Talent nicht haben.“

Mit diesem Erkenntnißseufzer auf den Lippen beschloß Mimi ihren ersten Freiheitstag.


4.

Gewohnt, sich früh zu erheben, verließ Mimi ihr Lagern als die Andern, noch im tiefsten Schlummer lagen. Jetzt erst musterte sie die Garderobe, welche die gütige Tante für sie mitgebracht hatte; es waren zierliche, helle Kleider, die jedem jungen Geschöpfchen Vergnügen machen mußten. Mimi wählte den bequemsten Anzug für die frühe Morgenstunde aus und fand dann selbst, daß sie in dem rosenrothen Blousenkleide von elsässischem Kattun, mit dem hübsch verzierten Ledergürtel doch ein gut Theil hübscher aussah, als in dem altväterischen Pensionskleide. Sie nahm den großen Strohhut und huschte hinaus in den thaufrischen Morgen. Als die jugendliche Gestalt nun pfeilschnell durch die schmalen Graswege zum blitzenden See hinuntereilte, da war Elfriedens Gleichniß von der Raupe, die zum Schmetterlinge geworden war, nicht so unpassend.

„Ach, die Luft, die köstliche Luft!“ jubelte Mimi tief athmend. „Wie schön ist die Welt, wie köstlich die Freiheit!“

Der blaue Himmel lachte über dem glücklichen Kinde, das unbewußt sein Gebet gesprochen hatte. Aber die gehobene Stimmung hielt nicht lange an; der alte Uebermuth, die Lust zum Wagen traten an ihre Stelle, und Mimi überlegte ernstlich, ob sie in eines der kleinen Badehäuser schlüpfen, oder den Kahn losbinden und versuchen sollte, sich ein Stückchen in den See hinaus zu rudern. Verlockend genug war der Gedanke wohl, aber doch bedenklich; denn vom Rudern verstand sie nichts.

Dem Zweifel machte eine wohlbekannte Stimme ein Ende, die fröhlich: „Guten Morgen, Klein-Bäschen!“ rief.

Mimi blickte auf. Felix stand in einer baierischen Joppe vor ihr, einen großen Strohhut auf dem Kopf.

„Grüß’ Gott, Vetter!. Ja, stehen Sie denn auch schon so früh auf? Ich dachte, vornehme Leute schlafen, bis die Sonne am Himmel steht.“

„Aber ich gehöre, ja auch nicht zu den vornehmen Leuten,“ antwortete Felix lachend, „sondern bin ein schlichter Soldat, der oft genug auf freiem Felde campirt hat.“

„Aber es muß doch lustig bei den Manövern zu bivouakiren sein,“ meinte Mimi, „so um das Wachtfeuer zu liegen mit den Cameraden und lustige Kriegs- und Marschlieder zu singen.“

„Aha, heute erblickt das kleine Fräulein das Soldatenleben von der rosigen Seite – aber die Phantasie malt zu rosig. Auf solche Mondscheinnacht folgen vielleicht lange trübe Regengüsse, und sehnend denkt man an sein behagliches Nest daheim.“

„Ja, die Wirklichkeit ist sehr abscheulich,“ entgegnete Mimi, sich ihres Gesprächs mit Bertha am vergangenen Abende erinnernd. „So abscheulich, daß ich ganz gern noch eine Weile in meinem Stifte bleibe und lerne und träume, statt in – der Welt Dinge zu hören, die ich doch nie werde leiden können.“

„Solch frischer Mund darf nicht die Lippen öffnen, um die Welt zu schmähen. Sehen Sie nur, wie rings Alles so wonnig lacht; geschwind, steigen Sie in den Kahn! Wir wollen uns die Herrlichkeit ein bischen näher anschauen.“

Felix war in den Kahn gestiegen und löste ihn los. Mimi trat zum Ufer zurück.

„Fürchten Sie sich?“ fragte er. „Ohne Sorgen Ich bin ein tüchtiger Ruderer.“

„Fürchten? Ich mich fürchten, vor dem See? Nein Aber, davor, daß Tante mich ausschilt, und ich bin zu stolz, mich ausschelten zu lassen wie ein kleines Kind. Glauben Sie nicht, daß es unpassend ist, wenn ich mit Ihnen hinausfahre?“

„Ei, ei! Gestern so zutraulich und heute schon voller Scrupel und Bedenken? Hat man Sie etwa wegen Ihrer gestrigen, Liebenswürdigkeit ausgescholten?“

„Ja!“

Felix lachte spöttisch, fast bitter, dann aber nahm sein Gesicht den gewohnten gutmüthigen Ausdruck an.

„Fürchten Sie nichts!“ sagte er begütigend, „heute wissen Sie ja, daß es ein Vetter ist, dem Sie sich anvertrauen, und dann sind Sie mir ja ausdrücklich als die ‚Kleine‘ vorgestellt worden; so kann selbst Tante Waldenburg nichts darin finden, wenn ich mich aus eigener Machtvollkommenheit zu Ihrem Beschützer aufschwinge.“

„Wenn es so ist, folge ich Ihnen mit großem Vergnügen,“ sagte Mimi und bestieg den Kahn; „wenn ich schon eine junge Dame wäre, ginge das nicht an – so viel weiß ich schon – aber noch darf ich thun, was mir gefällt – nicht wahr?“

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