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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

No. 38.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Gefunden – nicht gesucht.
Novelle von E. Laddey.


1.

„Der Wagen ist da, Mimi, Mimi!“ rief ein halbes Dutzend frischer Mädchenstimmen, und ebenso viele Köpfe steckten sich aus dem großen Corridorfenster des adeligen Fräuleinstiftes zu M., um nach jenem zu schauen.

„Endlich!“ jubelte es zurück.

„Ist Mademoiselle fertig?“

„Freilich, sie steigt schon die Treppe hinab.“

„Also Adieu, Ihr Lieben! Auf Wiedersehen in acht Wochen!“

„Ach, jetzt geht’s in die Berge, in die goldene Freiheit!“ und damit sprang die elastische Gestalt, die man Mimi gerufen hatte, in ein paar Sätzen die Treppe hinab, daß das enge schwarze Pensionskleidchen kaum für die großen Sprünge ausreichte und die langen, braunen Zöpfe über das schlichte Strohhütchen emporschlugen. Mademoiselle unten an der Treppe murmelte einen Verweis, aber das glückliche Kind umfaßte die Lehrerin in stürmischer Zärtlichkeit und rief:

„Heute nicht schelten, liebe Mademoiselle! Bin zu glücklich heute!“

Die armen, jungen Dinger, die keinen Menschen hatten, bei dem sie die Ferien verbringen konnten, grüßten noch halb freundlich, halb wehmüthig auf die Scheidende herab, die so keck ihr weißes Tüchlein zum letzten Gruße schwang, daß selbst der guten Französin die Geduld riß und sie energisch die kleine Hand der Ausgelassenen festhielt.

Noch einige herzliche Zurufe des Abschiedes herüber und hinüber, und eilig fuhr der Wagen mit Mimi und der Mademoiselle davon.

Bald darauf saß man glücklich im Nichtrauchercoupé, die Französin seufzte, daß sich die süddeutschen Züge nicht einmal den Luxus eines Damencoupés gestatteten; sie hatte das eine der Sophas in Beschlag genommen, eine dicke Dame, mit einem Kinde auf dem Schooße, das zweite, auf dem dritten breitete sich in großer Behaglichkeit Mimi aus, und so blieb einem Passagier, der noch zu guter Letzt einstieg, nichts anderes übrig, als auf dem letzten leeren Sopha, das heiß von der Sonne beschienen ward, Platz zu nehmen.

Er that es seufzend, denn die Hitze war übergroß.

Der Zug setzte sich in Bewegung; Mimi nahm ihren Hut ab, warf ihn oben in das Netz, lehnte sich behaglich in die Kissen und fand das Reisen sehr hübsch und bequem. Um so mehr that ihr der junge Mann leid, der da förmlich in der Sonne briet.

„Sie haben einen abscheulichen Platz,“ sagte Mimi gutmüthig, „die kleinen Vorhänge schützen gar nicht. Setzen Sie sich hierher! Wir haben Beide Raum –“ und dabei rückte sie freundlich bei Seite.

Mademoiselle warf einen verweisenden Blick auf die unvorsichtige Pflegebefohlene, aber die Harmlosigkeit derselben verstand diesen gar nicht, sondern fühlte sich sehr zufrieden, einem Mitreisenden einen Gefallen erwiesen zu haben.

„Gelt, jetzt haben Sie’s besser?“ fragte sie in ihrem baierischen Dialect.

„Viel besser,“ entgegnete der junge Mann und verbeugte sich lächelnd, wobei sein gebräuntes Gesicht mit den klaren, blauen Augen und dem jovialen Zuge um den mit keckem Schnurrbärtchen geschmückte Mund sehr hübsch aussah. „Das Reisen in solcher Gluth ist eine wahre Tortur.“

„Ah, das Reisen ist immer ein ungeheures Vergnügen!“

„Da sind Sie gewiß noch nicht viel gereist?“

„Nein, gar nicht viel, oder doch nur von einer Stadt zur andern. Jetzt aber gehe ich zum ersten Mal in die Berge und an die Seen und werde die ganzen Ferien über ausbleiben.“

„Die Ferien? Gnädiges Fräulein sind also noch im Institute?“

„Natürlich,“ nickte Mimi, „vor dem achtzehnten Jahre kann ich nicht heraus; bis dahin sind es noch fünfzehn Monate.“

„Eine lange Gefangenschaft!“

„Na, es geht. Wir haben es gar gut in unserm Pensionate und sind sehr vergnügt mit einander. Nicht wahr, Mademoiselle?“

Jene nickte.

„Mimi,“ sagte sie, „nicht so viel sprechen, Sie werden den Errn belästigen.“

„Belästigt es Sie, wenn ich plauderee“ fragte das kleine Ungeheuer von Offenheit den Nachbar.

„Gewiß nicht,“ gab dieser lächelnd zurück, „ich sehe es vielmehr für eine Gunst des Schicksals an, eine so liebenswürdige Reisegefährtin gefunden zu haben. Ich hörte gern etwas von Ihrem Institute; ich möchte wohl wissen, ob das Leben in einem solchen etwas dem in einem Cadettenhause gleicht, in welchem ich meine Knabenzeit zugebracht habe.“

„Sie sind also Officier? Das hab’ ich im selben Augenblick gedacht, als Sie in den Wagen stiegen. Ihr Haar ist so geschnitten, auch der Schnurrbart ganz so gedreht.“

„Mimi!!“ mußte Mademoiselle einwerfen.

„Aber mein Himmel, es ist doch keine Sünde, das zu sagen. Bin ich doch selbst ein Soldatenkind, muß mich daher auf soldatische Physiognomien verstehen.“

„Der Herr Papa sind also Camerad von mir?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_617.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)