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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

um so unangenehmer, als der Wind kalt und zugleich jeder Ausflug an’s Land durch die Quarantäne abgeschnitten war.

Am folgenden Tage schien sich die Sache anfänglich günstiger gestalten zu wollen; wir hatten die Strecke durch die Bitterseen schon vor 10 Uhr Morgens hinter uns. Allein dann erneuten sich die Erlebnisse des vorigen Tages: Wir lagen stundenlang fest und fuhren erst nach Mittag weiter, um schon nach einer halben Stunde abermals zum Halten gezwungen zu werden. Auf der Strecke zwischen den Bitterseen und Ismailia waren die Böschungen in noch schlechterem Zustande, was vollkommen erklärlich, da hier mit den dürftigen Reparaturarbeiten überhaupt noch nicht begonnen war. In Folge davon hatte denn auch ein etwas voreiliger Versuch, das Schiff von einer Sandbank, auf der es festsaß, durch die Kraft der Schraube loszumachen, keinen andern Erfolg, als daß die Schraube stark verletzt wurde. Eins ihrer Blätter brach ab; ein zweites ward stark, ein drittes weniger verbogen, und nur eins blieb unversehrt.

Bei der langsamen Canalfahrt war dies jedoch zunächst ohne hemmenden Einfluß, und so ging die Reise an der Oasengruppe von Ismailia vorüber durch den Timsahsee ohne weitere Störung fort. Dann hatten wir noch zweimal Aufenthalt, sodaß wir 30 Seemeilen von Port Said entfernt abermals zu übernachten hatten.

Am dritten Tage der Fahrt lag die Dünenwüste hinter uns, allein noch immer waren die Hemmnisse nicht zu Ende. Nachdem wir kaum 3 Meilen weiter gefahren, hatten wir 1½ Stunden Aufenthalt. Dann ging es etwas besser, bis wir etwa um 1 Uhr noch 7½ Seemeilen vom Hafen entfernt waren. Hier aber wurde uns ein abermaliger Halt von mehr als 3 Stunden bescheert, sodaß wir froh sein mußten, überhaupt noch – etwas nach Sonnenuntergang – nach Port Said zu gelangen.

Das sind die Erfahrungen, um die mich meine zweite Fahrt durch den Canal von Suez bereicherte. Die daraus zu ziehenden Schlüsse liegen auf der Hand: Gehen die Dinge in der Weise fort, wie dies in den letzten Jahren geschehen, und wie es leider schon durch die erste Anlage bedingt war, so ist offenbar die ununterbrochene Fortdauer der Fahrbarkeit des Canals in Frage gestellt. Gewiß wäre es nicht zeitgemäß, jetzt auf Aenderungen der ganzen Bau-Ausführung zu dringen, welche mit den größten Schwierigkeiten verknüpft wären, nämlich auf ein Verflachen der Böschungen und ein Verbreitern der Fahrstraße, welche auf lange Strecken nur 60 Meter im Wasserspiegel bei 8 Meter Tiefe und 22 Meter Bodenbreite mißt. Dagegen ist die Beseitigung der Uebelstände, unter welchen wir gleich Tausenden anderer Schiffe zu leiden hatten, um so dringender geboten und ohne Zögern eine gründliche Uferbefestigung und durchgängige Austiefung des Canals vorzunehmen. Hierbei sind sämmtliche Nationen Europas ohne Ausnahme betheiligt, und keine Regierung sollte sich der Aufgabe entziehen, die Leitung eines Unternehmens gehörig zu überwachen, das ein Stolz unseres Jahrhunderts und ein unschätzbares Kleinod Europas genannt werden muß und nun und nimmer uns verloren gehen darf.[1]


Aus deutschen Idiotenanstalten.

„Ihr kauft die Kräuter, kauft die Gräser
Für Euern kranken Bologneser
Und pflegt den Liebling mild;
Ihr gebt Schabracken Euern Rossen,
Deckt weit und breit mit seinen Schloßen
Der Winter das Gefild.
Euch rührt das Würmlein auf der Erde –
Doch nicht mit flehender Geberde
Ein trostlos Menschenkind.“

Diese Worte aus Karl Beck’s „Liedern vom armen Manne“ fielen uns ein, als wir im letzten Sommer, von Wien kommend, einige der lieblichen Thäler Steiermarks durchwanderten und als uns dort kurze, schmutzig-gelbe Gestalten, mit großem Kropfe, struppigen Haaren, niedriger Stirn und blöde dreinschauenden Augen in den Weg traten und mit rauher, kreischender Stimme um Almosen baten. Es waren Cretins, verkümmerte, halbblödsinnige Menschen, wie man sie in jenen Gebirgsgegenden leider nur allzu häufig anzutreffen pflegt. Unwillkürlich gedachten wir bei diesem Anblicke der Idiotenheilpflege in unserer Heimath. In ein wie helles Licht tritt dem Schicksale solcher armer Thalbewohner gegenüber das deutsche Idiotenwesen! Wenn wir auch zugeben müssen, daß auch bei uns die Lage der Blöd- und Schwachsinnigen noch Manches zu wünschen übrig läßt, so kann doch gar nicht verkannt werden, daß wir uns auf dem Wege einer gesunden Entwickelung dieser humanitären Bestrebungen befinden und daß bei uns – namentlich in den letzten Jahrzehnten – nach dieser Seite hin viel und bei weitem mehr als anderwärts geleistet worden ist. Das Nachstehende, in dem wir von den einschlagenden Bestrebungen ein gedrängtes Bild zu entwerfen gedenken, wird dazu einige Belege liefern.

Kein Land hat verhältnißmäßig so viele Anstalten für Blöd- und Schwachsinnige aufzuweisen, wie Deutschland. Während z. B. in den österreichischen Ländern nur vier derartige Unternehmungen mit etwas über hundert Zöglingen bestehen, giebt es innerhalb der Grenzen des deutschen Reiches gegenwärtig schon mehr als dreißig Lehr- und Pflegestätten für Blöd- und Schwachsinnige mit etwa fünftausend Zöglingen. Die meisten derselben sind Privatanstalten; einige unter ihnen genießen laufende Unterstützungen von Regierungen, Gemeinden etc., andere dagegen sind bezüglich ihrer Existenz nur auf sich selbst angewiesen. Das Königreich Sachsen war der erste deutsche Staat, welcher auf seine Kosten ein derartiges Institut in’s Leben rief: es ist dies die blühende „Erziehungsanstalt für blödsinnige Kinder in Hubertusburg“. (Siehe „Gartenlaube“ 1858, S. 151, außerdem über verwandte Gegenstände: 1862, S. 600, 1879, S. 576, 656, 728.)

Im Jahre 1867 folgte dem Beispiele Sachsens das Großherzogthum Mecklenburg-Schwerin und errichtete ein ähnliches Unternehmen in der Nähe seiner Hauptstadt.

Die innere Leitung der deutschen Anstalten liegt in der Hand entweder eines Arztes oder eines Pädagogen. Welche von beiden Leitungen die bessere sei, darin gehen die Ansichten noch aus einander. Nach unserer Meinung ist jeder Streit in dieser Beziehung ein müßiger: denn die Art der Vorbildung allein ist es sicher nicht, die von vornherein zur Leitung einer Anstalt befähigt. Steht an der Spitze derselben ein Arzt, so wird er nicht umhin können, sich bis zu einem gewissen Grade mit der Pädagogik zu befassen, und ist der Leiter ein Pädagoge, so wird von ihm vorausgesetzt werden müssen, daß er den Menschen nicht nur nach seiner psychischen, sondern auch nach seiner physischen Seite hin kenne.

Die Leiter der deutschen Idiotenanstalten versammeln sich in bestimmten Zeiträumen zu gemeinschaftlichen Conferenzen. Solcher Versammlungen – „Conferenzen für Idioten-Heilpflege“, wie ihr officieller Titel lautet – haben bisher, nachdem die Vertreter einer Anzahl von Anstalten bereits 1865 in Hannover, gleichzeitig mit der daselbst tagenden Naturforscherversammlung sich ein Rendez-vous gegeben, drei stattgefunden, und zwar 1874 in Berlin, 1877 in Leipzig und 1880 in Stuttgart. Seit der letzten Versammlung haben diese Conferenzen in der „Zeitschrift für das Idiotenwesen“ ein eigenes Organ gewonnen, welches in Dresden erscheint und unter Mitwirkung von Aerzten und Pädagogen vom Director W. Schröter in Dresden und Lehrer E. Reichelt in Hubertusburg herausgegeben wird.

Wiederholt haben sich diese Conferenzen mit dem Wesen des Blöd- und Schwachsinns und dessen Eintheilung beschäftigt, und insbesondere hat man die Frage aufgestellt, ob Blöd- und Schwachsinn als Krankheit oder als Schwäche anzusehen sei. Während diese Frage, deren Beantwortung in der Hauptsache nur von wissenschaftlichem Werthe ist, noch als eine offene bezeichnet werden muß, haben die Verhandlungen wenigstens zu dem Beschlusse geführt, für alle Zustände, welche als eine Hemmung der psychischen Entwickelung erscheinen, vom niedrigsten Grade geistiger Schwäche an bis zum vollen Blödsinn, die Bezeichnung Idiotie zu gebrauchen. Im praktischen Idiotenwesen hat sich seither die Eintheilung der Leidenden in bildungsfähige und bildungsunfähige eingebürgert.


  1. Sehr gelegen ist soeben erschienen: „E. Debes’ Karte von Unter-Aegypten, nebst Specialkarten des Suezcanals, der Umgebungen von Kairo, Alexandrien, Port Said, Ismailiye und Suez“ (1 Mark, Leipzig, Wagner und Debes). Sämmtliche Kärtchen zeichnen sich durch Correctheit, Deutlichkeit, Schönheit des Stichs, Drucks und Colorits aus und dürfen zur topographischen Anschauung der gegenwärtigen kriegerischen Vorgänge nachdrücklichst empfohlen werden.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 582. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_582.jpg&oldid=- (Version vom 14.4.2023)