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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

zugängliche; es ist ein Oberflächenorgan ohne den mächtigen Schutz, den diese sonst haben. Dazu kommt der eigenartige Bau: eine enorme, fast gerüstlose Häufung und Verknäulung von blut-, lymphe- und luftführenden Canalsystemen, denen zum Theil freie Mündungen an die Oberfläche und eine fast strukturlose Dünnwandigkeit eigen, wodurch die Zugänglichkeit für Schädlichkeiten jeder Art erhöht wird. Sodann – und das ist die Grundursache – ist die Lunge ungemein abhängig vom Herzen, an dessen Aufregungen und Schwächezuständen sie unmittelbar Theil nimmt, und zwar in solch hohem Grade und in solch directer Weise, daß ich nicht anstehe zu behaupten: keine Schwindsucht ohne vorhergehende und begleitende Herzschwäche, keine Heilung der Schwindsucht ohne Kräftigung des Herzmuskels.

Es ist diese Ansicht nichts Neues, aber seither kaum je so kategorisch hingestellt worden. Ich halte es daher in jedem Stadium der Schwindsucht für die erste Pflicht des Arztes, den Herzmuskel einerseits zu schonen und andererseits zu kräftigen, mit anderen Worten: den bei allen Schwindsüchtigen vorhandenen kleinen, raschen, fadenförmigen Puls in einen kräftigen, langsamen und vollen umzuwandeln. Gelingt dies nicht, so ist einfach keine Rettung mehr möglich.

Nun ist doch nichts natürlicher, als daß wir nach einem Mittel suchen, welches in Schwindsuchtsfällen die Kräftigung des Herzens in langsamer, stetiger, aber unfehlbarer Weise zu Stande bringt. Ein solches Mittel ist das Höhenklima. Wir besitzen zwar außerdem Mittel, welche für kürzere oder längere Zeit eine Kräftigung des Herzens bewirken, so in gewissen Fällen die Digitalis, der Weingenuß, gewisse Arten des Wasserheilverfahrens etc., Mittel, welche wir selbst an Höhencurorten als angenehme und willkommene Behelfe selten entbehren mögen. Keins aber wirkt so ununterbrochen, so unmerklich und doch auf die Dauer so radical, wie die sauerstoffarme Gebirgsluft und der verminderte Luftdruck des Gebirges, beide Momente zwar auf verschiedene Weise, aber in demselben Sinne und zu gleichem Zwecke. Wir wollen beide in ihrer verschiedenen Wirkungsweise näher betrachten.

Wenn wir uns am Meeresstrande befinden, so lastet auf uns der Druck der gesammten über uns befindlichen Luftsäule, und zwar auf jedem Quadratcentimeter Körperoberfläche mit einem Gewichte, welches gleich ist einer Quecksilbersäule von einem Quadratcentimeter Querschnitt und einer Höhe von 760 Millimeter. Eine solche Quecksilbersäule wiegt 1032,8 Gramm, und es lastet also auf jedem Quadratcentimeter Körperoberfläche des Menschen am Meeresgestade ein gleiches Gewicht. Desgleichen befindet sich die dort eingeathmete Luft in demselben Verhältnisse unter dem Drucke der über ihr ruhenden Atmosphäre; sie befindet sich also in einer bestimmten und ziffernmäßig zu belegenden Spannung. Je höher wir uns über der Meeresfläche erheben, eine um so geringere Luftsäule ruht auf uns und allem uns Umgebenden. Die von uns eingeathmete Luft – bekanntlich ein Gemisch von circa 79 Volumtheilen Stickstoff und 21 Volumtheilen Sauerstoff, bei geringen Theilen Kohlensäure und Wasserdampf – kann sich in ihren Mischungsverhältnissen nicht ändern, aber sie hat, wie alle Gase, das Bestreben, sich bei nachlassendem Drucke auszudehnen, einen größeren Raum als bei höherem Drucke einzunehmen. Mit Einem Worte: wir athmen bei zunehmender Höhe zwar dieselbe Luft ein in Betreff ihrer Mischungsverhältnisse, aber nicht dasselbe Quantum an Gewicht. Am Meeresstrande wiegt ein Kubikfuß Luft schwerer, als in einer Höhe von z. B. 650 Meter.

Da nun, wie wir aus dem Referat über den Vortrag des Herrn Professor Vogt am Eingange dieses Artikels gelernt haben, das Bedürfniß des Körpers an Sauerstoff sich nach dem Gewichte des letzteren richtet, so muß der Mensch zur Deckung dieses Bedürfnisses in der Höhe mehr Luft einathmen, als in der Ebene, das heißt also tiefer und schneller athmen. Das steht unumstößlich fest.

Was ist nun die directe unmittelbare Folge anhaltend vertiefter und beschleunigter Athemzüge?

Die Physiologie lehrt uns, daß bei jeder tiefen Einathmung das verbrauchte venöse Blut kräftiger zum Herzen zurück fließt, während bei jeder tiefen Ausathmung das erfrischte arterielle Blut kräftiger vom Herzen in und durch die Lunge strömt. Erleichterung des Rückflusses verbrauchten Blutes zum Herzen, Beförderung des arteriellen Blutzuflusses, also rascherer Blutdurchfluß durch die Lungen, das ist die unmittelbare Folge tiefer Athmung, das heißt des Aufenthaltes im Höhenklima. Dieser Effect ist aber ein Tag und Nacht andauernder und deshalb ein in seinen Wirkungen so mächtiger und heilsamer.

Als zweiter Factor tritt hinzu der verminderte Luftdruck größerer Höhen. Dieser durch das Barometer jederzeit meßbare verminderte Druck der über uns befindlichen Atmosphäre macht sich überall am menschlichen Körper dort geltend, wohin die Luft dringen kann, also vorzugsweise an der Oberfläche der Haut und der der Luft zugänglichen Schleimhäute und der Lungen. Es werden sich daher die zu Tage liegenden oberflächlichen Blutgefäße stärker mit Blut füllen, sich erweitern und dadurch auf Kosten der der Luft nicht zugänglichen inneren Organe, besonders der Bauchorgane und der Muskeln, eine total veränderte Blutvertheilung im menschlichen Körper hervorrufen. Auf großen Höhen geht dieser Trieb des Blutes in gesundheitsgefährlicher Weise nach außen, wie Jeder weiß. Auf geringeren Höhen, z. B. von 650 Meter, macht sich diese Blutvertheilung nicht so massiv und zum Schaden der Gesundheit geltend, aber doch als eine wirkende Ursache, die in die Oekonomie des menschlichen Organismus mächtig einzugreifen vermag, und sind es ganz besonders die Verhältnisse der Blutcirculation und des Herzens, welche bei dauerndem Aufenthalte unter vermindertem Luftdrucke eine heilsame Veränderung erfahren. Während die Füllung der dem verminderten Drucke der verdünnten Luft ausgesetzten größeren und besonders der kleinsten Blutgefäße, der sogenannten Capillaren der äußeren Haut und der Lunge zunimmt, wird die Circulation des Blutes durch Zunehmen der Herzkraft und Vermehrung der Gefäßspannung beschleunigt.

Der absolute Blutdruck wird vermindert, der relative Blutdruck (das heißt relativ zur Verminderung des Luftdruckes) dagegen erhöht, und es tritt trotz Mehrleistung des Herzens eine Verminderung der Herzarbeit, eine Erleichterung der Herzthätigkeit ein. Wie wichtig dies ist, haben wir oben gesehen. Professor Waldenburg in Berlin gebührt das große Verdienst, auf diese Seite der Wirkung des Höhenklimas zuerst und erschöpfend aufmerksam gemacht zu haben, und er empfiehlt daher längeren Aufenthalt im Gebirge allen denjenigen Kranken auf’s Dringendste, bei denen die Herzkraft geschwächt ist, das heißt Reconvalescenten nach schweren Krankheiten, Bleichsüchtigen und Blutarmen, gewissen Herzkranken und ganz besonders den chronisch Lungenkranken. Der Nutzen des Höhenklimas offenbart sich nach Professor Waldenburg so unbestreitbar, daß selbst schwere Mängel, die ihm anhaften (als rauhere Luft, vermehrte Luftbewegung) durch die Vorzüge überwogen werden. Mau sieht Kranke bei hoher winterlicher Kälte und beträchtlichen Temperaturschwankungen in hochgelegenen Heilanstalten sich wohl befinden und mehr und mehr sich bessern. Die Thatsache, daß in Gebirgen Schwindsucht gar nicht vorkommt, ist Wohl Jedem bekannt und lediglich darauf zurückzuführen, daß eine Erlahmung der Herzkraft hier selbst unter schwächenden Einflüssen nicht auf die Dauer Platz greifen kann.

Das unbestreitbar große Verdienst, auf das Nichtvorkommen der Schwindsucht in hohen Gebirgslagen und auf die Heilkraft solcher Lagen bei vorhandener Schwindsucht zuerst hingewiesen, zugleich auch durch Errichtung einer Gebirgsheilanstalt seine Lehre praktisch verwerthet zu haben, gebührt dem Dr. Brehmer in Görbersdorf (1850). Nicht lange nachher wurde Davos in der Schweiz zu einem Luftkurort für Lungenkranke, besonders für Wintercur, geschaffen. Alsdann folgte 1870 die Heilanstalt Reiboldsgrün, 690 Meter über der Ostsee und inmitten meilenweiter Fichtenwaldungen geschützt gelegen, welcher Verfasser dieses Artikels als Arzt vorsteht. Im Jahre 1875 wurde eine zweite Heilanstalt in Görbersdorf errichtet unter der Direktion des Dr. Römpler. Sodann folgte die Eröffnung einer südlichen, aber nur 440 Meter hoch gelegenen Actienheilanstalt in Falkenstein im Taunus, jetzt unter der Direction des Dr. Dettweiler. Auch St. Andreasberg am Harz (600 Meter hoch) nimmt seit Kurzem Lungenkranke auf, ebenso noch einige andere Gebirgsorte. Die in sämmtlichen Anstalten im Sommer wie Winter erzielten Erfolge entsprechen durchaus den gehegten Erwartungen, obgleich in der Behandlung in manchen Punkten von einander abgewichen wird. Aber die Zahl dieser Anstalten ist viel zu gering gegenüber der übergroßen Anzahl Lungenkranker; eine Vergrößerung der einzelnen Heilstätten empfiehlt sich nicht, da die einheitliche Leitung derselben darunter leiden könnte und eine zu große Anhäufung so verschiedenartiger Lungenkranker an einem Orte sich aus mannigfachen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 564. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_564.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2023)