Seite:Die Gartenlaube (1882) 542.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Das ganze Unglück des Landes und die trostlose elende Lage des Volkes wurde dabei stets den Fremden, den Europäern, oder noch richtiger den Christen zur Last gelegt, und die Engländer und Franzosen erhielten in der bilderreichen arabischen Sprache Namen und Titel, die alle europäischen Kraftausdrücke weit hinter sich ließen. Die Polizei fahndete wohl auf die bösen Zettel, die dann plötzlich verschwanden, um nach einigen Wochen wieder aufzutauchen; ja man behauptete, daß manche Polizisten selbst solche Flugblätter in der Tasche trügen, um sie im Geheimen zu lesen, oder sich vorlesen zu lassen, wenn sie, wie es meistens der Fall war, nicht lesen konnten; denn Lesen und Schreiben ist in Aegypten schon der Probirstein höherer Bildung. Auch in die kleineren Städte des Deltas und sogar in die Dörfer bis hinauf nach Oberägypten drangen diese Flugblätter, und selbst in den letzteren fand sich immer ein „Gelehrter“, der den Fellachen über die augenblickliche Lage und Stimmung die nöthige Aufklärung verschaffte. Also ein Stückchen vom russischen Nihilismus im Pyramidenlande!

Wie weit Arabi bei Abfassung und Verbreitung jener Flugblätter thätig war, ist nicht näher zu erweisen; natürlich nehmen jetzt seine Anhänger Alles für ihn in Anspruch, oder bringen doch Alles mit seiner Person in Verbindung, was geeignet sein kann, ihn als den Hauptführer der Volkspartei zu feiern. Gewiß ist nur, daß er eines der thätigsten und einflußreichsten Mitglieder einer geheimen Verbindung von Officieren war, als deren Gründer Ali Pascha el Rubi, der jetzige Minister Arabi’s, anzusehen ist und deren Entstehen wohl schon in das Jahr 1875 fält, wo bei Gelegenheit des bereits erwähnten tollen abessinischen Feldzuges sich verschiedene Regimenter widersetzlich zeigten.

Trotzdem legte damals die Regierung jener Verbindung keine große Bedeutung bei, ja sie soll sogar von ihr geduldet worden sein und bei dem Staatsstreich des Ex-Khedives die Hand mit im Spiele gehabt haben. Auch Riaz Pascha, der Ministerpräsident Tewfik’s, soll heimlich zu ihr gehalten haben, um dadurch den Intriguen Ismaïl’s von Neapel und Halim’s von Constantinopel aus auf die Spur zu kommen. Das Intriguiren ist einmal das Grundelement des orientalischen Staatslebens, und es kommt nur darauf an, wer es am besten versteht, die Gegenpartei zu überlisten und zu stürzen. Arabi war nun feiner und listiger, und der kluge Riaz, der mit dem Feuer gespielt hatte, anstatt es energisch zu bekämpfen und zu ersticken, zog den Kürzeren und fiel.

Nun war die Partei mächtig genug, dem schwankenden und schlecht berathenen Khedive ihren Führer aufzudrängen, der als Arabi Pascha Kriegsminister und zugleich die Seele des Cabinets wurde. Doch dies ist dem Leser bereits bekannt, und ebenso die Biographie Arabi’s, die fast in allen größeren deutschen Zeitungen gestanden hat, obwohl sehr gleichlautend als ein Artikel der „Politischen Correspondenz“. Nur zwei Punkte dieses Artikels bedürfen durchaus zum richtigen Verständniß der Lage einer Widerlegung. Zunächst heißt es darin, daß von einer sogenannten ägyptischen Nationalpartei so gut wie gar nicht die Rede sein kann. Eine solche existirt aber allerdings und darf unmöglich jetzt mehr weggeleugnet werden. Der Keim dazu ist sogar schon von Mohammed Ali, dem Begründer von Aegyptens neuer Zeit, gelegt worden, insofern wenigstens, als sich schon unter ihm ein instinctives Volksbewußtsein geltend machte, mit dem Wunsch und Drange, sich von der türkischen Botmäßigkeit zu befreien und selbstständig dazustehen. Freilich war er selbst der Hauptträger und -vertreter dieses Bewußtseins, das die Westmächte nur allzu deutlich begriffen – sonst würden sie seine weitgehenden Pläne nicht so energisch und zugleich so selbstsüchtig bekämpft haben.

Wer sich dafür interessirt, lese nur die Geschichte jener Tage nach: als Mohammed Ali durch seinen tapferen Sohn Ibrahim (den Vater des Ex-Khedives) die große Entscheidungsschlacht bei Nisibi in Syrien am 24. Juni 1839 so glänzend gewonnen hatte, hätte ihm der Weg nach Stambul und zum großherrlichen Thron offen gestanden, zumal wenige Tage darauf der Sultan Mahmud der Zweite starb – wenn sich, wie gesagt, die Politik der Westmächte nicht in’s Mittel gelegt hätte, und von da an datirt in der europäischen Diplomatie die „Orientalische Frage“. Das hat man noch heute am Nil nicht vergessen, und alle Bestrebungen Ismaïl’s gingen darauf hinaus, die Pläne seines Großvaters, wenigstens soweit dieselben die Unabhängigkeit Aegyptens von der Pforte betrafen, zu verwirklichen.

Daß er dabei die denkbar verkehrtesten Wege einschlug und, statt seine Regentenpflichten mit Ernst aufzufassen und würdig zu erfüllen, gerade zu den schlechtesten und unsinnigsten Mitteln griff, daß er als gewissenloser Verschwender sein schönes Land ruinirte und zuletzt unter dem schimpflichen Titel „halb Narr, halb Despot“, den ihm die Verständigen im Lande längst gegeben, abgesetzt wurde – das ändert wohl für seine Person die große Bedeutung der nationalen Idee, aber die Idee selbst jedenfalls nicht, und wenn Arabi Pascha, der sich jetzt zu ihrem Träger und Vertreter aufwirft, etwas Aehnliches proclamirt, so steht jedenfalls eine große Partei hinter ihm. Sollte auch er fallen, sei es durch eigene Schuld, durch die Westmächte oder durch Intriguen von Constantinopel aus, so beweist dies weiter nichts, als daß auch er nicht der geeignete Mann zur Durchführung der Idee war, und das arme, unglückliche und so tief beklagenswerthe ägyptische Volk muß sich von Neuem mit der Hoffnung trösten, daß endlich doch einmal die erlösende Stunde schlagen wird.

Der zweite irrige Punkt in jenem biographischen Artikel – auch die englischen und französischen Zeitungen legen so großen Nachdruck darauf – ist die Behauptung, daß die ungeheuren Anleihen, welche die ganze augenblickliche Verwickelung hervorgerufen haben, im Grunde doch dem Lande zu Gute gekommen seien, mit andern Worten: daß das Capital, für das die fast unerschwinglichen Zinsen aufgebracht werden müssen, doch von Aegypten verzehrt sei.

Diese Behauptung beruht auf einer vollständigen Unkenntniß der Verhältnisse im Nillande; daß man freilich in London und Paris dergleichen verbreitet, darf nicht Wunder nehmen; denn die Intervention der beiden Mächte erhält dadurch gewissermaßen einen größeren moralischen Halt. Aber im Uebrigen und an sich ist jene Behauptung durchaus unwahr. Dem Lande ist nur ein äußerst geringer Bruchtheil jener unermeßlichen Summen zugute gekommen, und der großen Masse der Bevölkerung, den Fellachen, die mehr als drei Viertel der gesammten Einwohnerzahl Aegyptens ausmachen und die doch gerade die Zinsen aufbringen müssen, gar nichts. Woher die sonst mit jedem Jahre erhöhten Steuern und Abgaben, die zuletzt nur noch auf dem Executionswege, das heißt durch die Bastonnade, aufgebracht werden konnten und in Folge welcher das eigentliche Volk jetzt gänzlich verarmt ist? Das verträgt sich doch wahrlich schlecht mit dem vermeintlichen Segen, der dem Lande durch die Anleihen zu Theil geworden sein soll. Allerdings hat der Ex-Khedive im Laufe seiner sechszehnjährigen Regierung manches Nützliche und Ersprießliche geschaffen, so namentlich in den größeren Städten und speciell in Kairo, wo er einen ganzen Stadttheil nach europäischem Muster hat anlegen lassen, mit langen, gaserleuchteten Boulevards à la Haußmann, mit prächtigen Anlagen und Lustgärten, um, wie er sagte, aus Kairo ein orientalisches Paris zu machen. Dieser Ausdruck ist sehr bezeichnend und zwar als Beweis dafür, daß auch bei diesen Unternehmungen immer seine persönliche Eitelkeit obenan stand.

In weit höherem Maße war dies aber der Fall bei Oper, Schauspiel, Ballet und Circus und bei so vielen ähnlichen Schöpfungen und Anstalten, von denen das Volk wahrlich keinen Nutzen gezogen hat. Und das ist noch Alles geringfügig im Vergleich zu Ismaïl’s sinnlos verschwenderischem Hofhalt, zu seinen riesenhaften Palastbauten, für welche tausend und aber tausend Arme unausgesetzt um wenige Piaster Tagelohn gepreßt und dadurch dem Feldbau entzogen wurden.

Was hatte ferner das ägyptische Volk davon, daß sein Herrscher den Titel eines Khedives und für sein Haus die directe Erbfolge mit einer Million Pfund Sterling vom Sultan erkaufte, oder von ähnlichen „Gnadenbezeigungen“ der Pforte, die stets mit Tonnen Goldes aufgewogen werden mußten, was ferner von den durch ihre Märchenpracht sprüchwörtlich gewordenen alljährlichen Ballfesten, was von dem aller Beschreibung spottenden Möbelprunk der zehn, zwanzig Paläste, oder von den vergoldeten Galawagen, den englischen Rassepferden und von so vielen anderen Dingen, für die das in Europa geliehene Geld in ungezählten Millionen wieder nach Europa zurückging? Was hatte das ägyptische Volk vollends von der Haremswirthschaft des „Landesvaters“ und seiner Familie, zu der vielleicht gar mancher Fellah aus Oberägypten seinen Sohn als Eunuchen oder seine Tochter als Sclavin geliefert hatte? Und so könnten wir mit ähnlichen Fragen noch eine Seite füllen und würden doch immer und ewig nur eine und dieselbe Antwort darauf zu hören bekommen: Nichts, gar nichts! Arabi Pascha hat mithin von seinem Standpunkte aus so unrecht nicht,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_542.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2023)