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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Das ist in der That noch die Stadt des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts: die Ringmauer mit ihren Thürmen ist fast noch vollständig unversehrt geblieben, und sogar die Bresche, welche Tilly in die Mauer geschossen, wurde durch eine schwere Arbeit wieder ausgefüllt. Alles zeugt dafür, was die Stadt gelitten, aber zugleich auch dafür, daß sie, gleich dem göttlichen Dulder Odysseus, niemals den Muth hat sinken lassen. Da stehen noch das Rathhaus, die Kirchen und die Klöster, das Deutschordenshaus und die weit ausgedehnten Spitalgebäude „Zum heiligen Geist“, letztere mit großer eigener Meierei; dort ragt noch der Thurm empor, in welchen man den Verräther der Stadt eingemauert, und da unten liegt auch noch das „Schlößchen“ des Bürgermeisters Töppler, mitten in einem Ueberschwemmungsgebiet, über welches jetzt eine steinerne Brücke führt, während früher nur eine Zugbrücke da war, um den Zutritt den Feinden zu wehren, welche man heutzutage nicht mehr zu fürchten hat. Vormals hat in diesem Taubenschlage der deutsche Kaiser Wenzel „residirt“ oder gar einen üppigen Hofhalt geführt. Heute würde jeder wohlsituirte Bürger sich besinnen, ob er in den paar engen Stübchen hinter den kleinen achteckigen Fensterscheiben, die durch schweres Blei mit einander verbunden sind, auch nur eine vierwöchige Sommerfrische abhalten möchte. Die Treppe, welche aus dem massiven steinernen Untersatz nach den beiden oberen, gleichsam in der Luft balancirenden Stockwerken führt, ist so schmal, daß ich sie nicht passiren könnte, wenn ich auch nur zwanzig Centimeter mehr im Umfang hätte.

Man fragt sich fast zweifelnd: Ist das Alles denn auch zur Zeit des Kaisers Wenzel schon so enge gewesen? Und man muß diese Frage mit „Ja“ beantworten.

Ja, man konnte damals sich wenig um Behäbigkeit, Wohnlichkeit, Schönheit und Luxus bekümmern, weil man vor Allem und beinahe ausschließlich auf Sicherheit sehen mußte. Es ging damals, wie es in unseren Tagen, laut des schönen Liedes in dem „Exilium Melancholiae“, dem Dorfschulzen Röhrle und seiner Frau erging, welche Alles in Hülle und Fülle hatten, in jenem tropischen Lande, wohin sie ausgewandert waren; als ihnen aber eines Tages die Löwen ihre Dienerschaft auffraßen, da wurden sie von dem Gefühle der Unsicherheit so sehr ergriffen, daß sie sich zu einem schwermüthigen Duett, zu singen nach der Melodie „Guter Mond, du gehst so stille“, vereinigten, welches lautet wie folgt:

„O, ihr rauhen Thiergemüther,
     Die ihr in der Wildniß irrt,
Was sind alle Erdengüter,
     Wenn man aufgefressen wird?“

Das also ist anders geworden. Man erfreut sich in dem mauer- und thurmumgürteten Rothenburg, das so stolz von seiner unnahbaren Höhe in das tief eingeschnittene Thal der rasch strömenden Tauber herabsieht – so stolz, daß man es vormals hinsichtlich seiner Lage, wie mir indeß scheint, nicht ganz zutreffend, mit der heiligen Stadt Jerusalem verglichen – man erfreut sich hier einer Sicherheit und Behaglichkeit, wie nur irgend wo im deutschen Reiche, und in dem „Gasthaus zum Hirsch“ wohnt heutzutage Unsereiner hundertmal besser, als vormals der Kaiser Wenceslaus in dem Schlößchen des weiland regierenden Bürgermeisters Töppler oder Doppler (das ist auf deutsch: Würfelspieler).

Sonst aber ist hier Alles geblieben, wie es vor dreihundert Jahren gewesen, wenigstens was die Physiognomie der Stadt anlangt. Ich muß dies näher erläutern; denn erstens steht es im engsten Zusammenhange mit dem „historischen Festspiel“, über das ich berichte, zweitens aber — und das scheint mir die Hauptsache zu sein – ist es an sich sehr interessant und so viel ich gelesen, noch nirgends mit der nöthigen Deutlichkeit hervorgehoben worden.

Bekanntlich giebt es der Städte noch mehr, welche uns heute noch ein deutliches Bild längst vergangener Zeiten gewähren. Allein allen diesen Städten fehlt die Fülle einer reichen und belebten Gegenwart ganz, oder zwischen ihrer glorreichen Vergangenheit und ihrer bescheidenen Gegenwart klafft ein nicht überbrückbarer Abgrund. Sie haben ganz oder theilweise nur auf Kosten der Gegenwart das Bild ihrer Vergangenheit herüber zu uns gerettet, und obgleich dieses Bild einen großen Werth hat, so ist der Preis, der dafür bezahlt wurde, doch etwas theuer. Ich will Beispiele zum Zweck der Erläuterung anführen:

Herculanum mußte mit einer Lavaschicht, Pompeji mit einem Aschenregen, Olympia mit Flußgeröll überschüttet werden, um auf uns zu kommen. Die alte Stadt Wisby aus der schwedischen Ostsee-Insel Gottland, welche ich im vorigen Sommer aufgesucht und in meiner „Wisby-Fahrt“ beschrieben habe, hat zwar die riesigen Bauten des dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, wenigstens in stattlichen Trümmern erhalten, jedoch nur um den Preis, daß die Stadt von dem Fußgestell ihrer glorreichen Hansa-Zeit, wo sie der Mittelpunkt des nordischen Handelsverkehrs war, herunterstieg und zu einem Landstädtchen herabsank, in welchem jene Trümmer dastehen inmitten der schmucken, aber einfachen und kleinen modernen Häuser, wie Gebäude der Riesen in einem Städtlein der Zwerge. Die gute, alte Reichsstadt Soest in Westsfalen, welche im Mittelalter eine so große Rolle auf dem Gebiete des Wirthschafts- und des Rechtslebens gespielt hat, sie hat zwar ihre schönen Kirchen und sonstigen architektonischen und monumentalen Zierden zum größeren Theile erhalten, im Uebrigen aber ist ihre Herrlichkeit so sehr geschwunden, daß in der Stadt mancher Platz, wo vormals steinerne Paläste standen, jetzt von bescheidenen Holzbauten eingenommen wird, oder auch von Grasflächen und Baumstücken, und daß die spöttisch-mitleidslosen Nachbarn die vormals so sehr beneidete große Stadt das heruntergekommene „freie deutsche Reichsdorf“ nennen.

Mit Rothenburg ist das ganz anders. Es hat seine Vergangenheit erhalten, ohne seine Gegenwart zum Opfer zu bringen. Auch klafft zwischen seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart kein Abgrund. Es hat sich durch alle Mißgeschicke hindurch tapfer gehalten und bis zur Gegenwart durchgeschlagen. Allerdings ist es nicht mehr jene stolze, freie Reichsstadt, deren Bürger so wehrhaft waren, daß Ludwig Uhland von ihnen sang:

„Wie haben da die Gerber so meisterhaft gegerbt,
Wie haben da die Färber so purpurroth gefärbt –“

jene Reichsstadt, die über ein durch den Landgraben befestigtes Gebiet von sechsundzwanzig Ortschaften herrschte und deren streitbare Bürgermeister an der Spitze der städtischen Fähnlein aufzogen, um in den Fehden der Nachbarn manchmal das entscheidende Schwert in die Wagschale zu werfen, den Territorialherren, ja manchmal sogar Kaiser und Reich selber zu trotzen, oder gar Gebietseroberungen zu machen. Das Alles ist dahin, um niemals wiederzukehren. Die Stadt hat viel verloren, aber sie hat auch viel gerettet.

Sie hat heute noch dieselbe Einwohnerzahl, wie zur Zeit ihrer höchsten Blüthe im fünfzehnten Jahrhundert. Heute noch ist das ganze Gebiet innerhalb der alten Mauern überall ausgefüllt von menschlichen Wohnungen, und selbst ein Theil des weiland so ansehnlichen städtischen Vermögens ist gerettet, obgleich man sich während der dictatorischen und rechtlosen Zeit der Rheinbundherrschaft die gröblichsten Ein- und Uebergriffe in dasselbe erlaubt hat. Die zum Theil äußerst opulent und breit angelegten Straßen sind noch besetzt mit den alten, aber gut unterhaltenen Häusern der Bürger, sowohl der Patricier, welche man die „Ehrbaren“ (und im Gesammtbegriff die „Ehrbarkeit“) nannte, wie auch der Plebejer oder der Zünftigen. Die Häuser wenden ihre steilen und zum Theil zierlich decorirten Giebel der Straße zu, und in der Reihenfolge tritt – gerade wie in dem westfälischen Soest – oft ein Haus vor dem andern etwas staffelförmig zurück, damit einem Jeden möglichst viel Aussicht auf die Straße gewährt wird. Im Innern der Häuser finden wir auch noch in der Regel jene breite und hohe Halle, welche hier „die Tenne“ genannt wird und an die Vorplätze in den Häusern von Danzig, Rostock und Lübeck erinnert. In jedem Hause wohnt auch heute noch in der Regel nur eine Familie, und auch hier kann das Familienoberhaupt sagen, wie in England: „Mein Haus ist meine Burg“. Daher kommt es denn auch, daß die Stadt im Verhältniß zu ihrer Einwohnerzahl einen außerordentlich großen Flächengehalt einnimmt, und wiederum ist dieser Umstand, in Verbindung mit der gesunden Lage, die Ursache, daß man hier so viel gesunde frische Gesichter sieht. Namentlich fallen dem Fremden sofort die lieblich und rosig angehauchten Gesichter der Frauen, Mädchen und Kinder auf, eine Beobachtung, die auch der deutsche Kronprinz gemacht haben soll, als er vor einiger Zeit Rothenburg ob der Tauber besuchte.

Verschwunden sind zwar mit so manchen andern Institutionen aus alter Zeit die Deutschordensherren, jene ritterlichen Priester

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_494.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2023)