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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Voß hatte sich eine Pension von 600 Thalern erbeten, obwohl er nur einen Gehalt von 500 Thalern bezog. Der Fürstbischof bewilligte sie „ihm, der nur als ein Verreister anzusehen sei und der zu jeder Zeit die freundlichste Aufnahme zu gewärtigen habe“, und Voß versprach, wandle ihn einmal im Süden das Heimweh an, dann „wie ein treuer Storch“ seinen Sommerflug nach Eutin zurückzunehmen.

Der 3. September war der Scheidetag. Am Abend desselben sah sich der Dichter noch einmal im Kreise seiner Freunde Esmarch und Hensler[WS 1] aus Kiel, Boie aus Meldorf und Anderer. Unter allgemeiner Theilnahme und in eigener tiefinnerlicher Bewegung verließ er den mütterlichen Boden seines Dichterlebens, um sich in Jena anzusiedeln, dort mit Grießbach, Eichstädt und Thibaut im traulichen Verkehr, mit Goethe und Schiller in naher Verbindung zu leben und nur drei Jahre später sich zu einer regen Thätigkeit in Heidelberg niederzulassen, wo er als fünfundsiebenzigjähriger Greis starb. Mit Voß waren auch seine Freunde aus Eutin geschieden. Dieses Städtchen aber hegt und pflegt in treuer Pietät das Andenken des edlen Mannes und rüstet sich jetzt, den Tag festlich zu begehen, an welchem er ihm einst gegeben worden war.

Franz Siewert.     




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
18. „Jeder ist sich selbst der Nächste“.

Durch ihre einfachen Aufzeichnungen hat sich die „Hausmutter“ zu ihrer Freude das Vertrauen vieler „Gartenlauben“-Leser erworben, und aus allen Himmelsrichtungen sendet man ihr freundlich aufmunternde Briefe zu. Fast jedes dieser Schreiben enthält die Bitte, irgend ein darin bezeichnetes Thema demnächst zur Sprache zu bringen, und so ist es gekommen, daß die „Vernünftigen Gedanken einer Hausmutter“ immer wieder Stoff zu neuen Besprechungen empfingen.

Meist finden denn auch diese anregenden Briefe ein williges Echo im Herzen der „Hausmutter“, zuweilen aber kann sie ihre Ansichten nicht in Einklang bringen mit denen ihrer Leser, und ein solcher Fall tritt auch heute ein, wo ihr folgender Brief vorliegt:

„– – ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘, ist eine Redensart, die man in allen Kreisen hört, obgleich sie für das Bestehen der menschlichen Gesellschaft so verderblich ist.

Im Hinblick auf die Redensart: ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘, läßt der Sohn den Vater, die Tochter die Mutter, der Bruder die Schwester darben oder umkommen, sucht jeder Mensch den andern zu schädigen oder zu vernichten, obgleich Gesetz und Moral das Gegentheil lehren. Es ist dies nach meiner Ansicht ein Mangel an gegenseitiger Achtung, ein Mangel an Bildung, der nicht wenig Theil hat an den gegenwärtigen, so oft getadelten gesellschaftlichen Zuständen.

Ich kenne geachtete Menschen, die, durch unverschuldetes Unglück oder entschuldbares Versehen arm geworden, sich das Leben genommen haben, weil sie bei der Redensart: ‚Jeder ist sich selbst der Nächste‘, auf Hülfe der Menschen nicht rechneten, obgleich Hülfe durch Rath und That leicht möglich gewesen wäre.

Die Befolgung dieses egoistischen Grundsatzes in Fällen der Noth ist eine Eigenschaft des Menschen, die ihn dem Thiere gleich stellt“ etc.

Sollte dieses düstere Bild der Wahrheit entsprechen? Sollte es uns wirklich die allgemeine Regel vorführen und nicht vielmehr nur eine Reihe trauriger Ausnahmen?

Wohl läßt es sich nicht leugnen, daß die Zahl der Selbstmorde aus Verzweiflung in grauenhafter Weise zugenommen hat, aber trägt daran auch wirklich die Hartherzigkeit der Menschen im Allgemeinen Schuld und nicht auch ebenso oft die Muthlosigkeit oder falsche Scham jener Verzweifelnden?

Wir haben es uns zum Grundsatz gemacht, hier nur Selbsterlebtes und Selbstgeprüftes zur Darstellung zu bringen; in unserer eigenen Erfahrung aber ist der Fall nicht vorgekommen, daß ein Unglücklicher mit festem Muth und bescheidenem Sinn allenthalben vergeblich um Hülfe nachgesucht hätte. Freilich, wer den Glauben an die Menschheit so ganz verloren hat, daß er gar nicht erst den Versuch macht, Hülfe zu erbitten, oder wer schon bei dem ersten mißlungenen Versuch dazu den Muth verliert, der darf nicht die Welt und ihren Egoismus anklagen, wenn er zu Grunde geht – sich selbst hat er es zuzuschreiben.

Wahr ist es auch leider, daß gerade in den letzten Jahren Verbrechen verübt worden sind, die eine solche Tiefe menschlicher Verkommenheit und Entartung verrathen, daß unser Verstand erstarrt davor still stehen muß. Wiederholt ist es ja vorgekommen, daß Väter oder Mütter in der Noth ihre ganze Familie förmlich abgeschlachtet haben, ein Kind um’s andere. Aber diese Unseligen haben dann stets zuletzt auch die Hand an’s eigene Leben gelegt; auf sie also kann der Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“ keine Anwendung finden. Um ihn aber auf ihre Mitmenschen beziehen zu können, die ihnen aus so tiefer Noth nicht geholfen haben, müßte in jedem einzelnen Fall erst nachgewiesen werden, daß die Betreffenden auch wirklich in angemessener Weise menschliche Hülfe nachgesucht hatten. Und wäre dies geschehen, hätte kein Mensch ihnen helfen wollen, und sie wären in der That dem harten Spruch: „Jeder ist sich selbst der Nächste“ zum Opfer gefallen, so sind diese Geopferten, trotz ihrer anscheinend großen Zahl, doch immer nur eine sehr kleine Ausnahme, jenen Millionen anderer Unglücklicher gegenüber, welche durch werkthätige Nächstenliebe gerettet wurden.

Ist es nicht wahrhaft erstaunlich, welch große Summen jede mildthätige Sammlung für Verunglückte ergiebt, so oft sich auch dergleichen Aufrufe wiederholen? Und doch sind diese Summen sicherlich nur klein im Vergleich mit jenen anderen, welche, im Stillen gegeben, durch keine Zeitung bekannt werden.

Nein, wir können uns unmöglich zu dem Glauben bekennen, daß die Welt so schlecht ist, wie sie oft gemalt wird. Es geht darin kaum jemals ein Mensch verloren, der sich nicht selbst verloren gegeben hat, und wer sich von nichts als von Härte und Egoismus umgeben glaubt, dem trauen wir zu, daß er entweder ein gut Theil von beiden selbst in der Brust trägt oder daß er durch trübe Schicksale verstimmt und verbittert worden ist. Wer aber Schiffbruch gelitten hat am eigenen Seelenfrieden, der befindet sich in einem Ausnahmezustande; er denkt und fühlt nicht normal, und seine Ansicht kann keine maßgebende sein.

Gewiß giebt es auch Egoisten, die keine andere Sorge kennen, als jene um das eigene liebe „Ich“, die so fühllos bei der Noth ihrer Mitbrüder bleiben, daß sie den Verschmachtenden von ihrer reich besetzten Tafel ruhig fortzuweisen vermöchten; bei ihnen aber heißt es nicht mehr: „Jeder ist sich selbst der Nächste“, sondern: „Jeder ist nur sich selbst nahe“, und nicht die Schuld des alten Spruches ist es, wenn er mißdeutet und zum Deckmantel niedriger Gesinnungen genommen wird.

Ja, es giebt wohl auch solche traurige Ausnahmen, uns selbst aber sind ihrer kaum zwei oder drei im ganzen Leben vorgekommen; dagegen kennen wir Hunderte von Menschen, die gern und freudig zur Hülfe bereit waren, wo es Noth that, und eine große Anzahl Solcher, die aus warmer Nächstenliebe mehr der Opfer brachten, als sie vor sich selbst verantworten konnten.

Gewiß, die Zahl der Egoisten, welche Einsender des oben wiedergegebenen Briefes im Auge hatte, ist nicht so groß, wie man oft anzunehmen pflegt, und keinenfalls groß genug, daß sie erheblich zum Verfall der menschlichen Gesellschaft beitragen könnte, den wir vielmehr in dem Leichtsinn, der Genußsucht und der Großmannssucht Jener zu finden glauben, die sich durch diese Fehler erst zu Grunde richten und dann auch oft noch den falschen Stolz besitzen, sich lieber durch fremde Unterstützung als durch eigene ehrliche Arbeit helfen zu wollen.

So lange es Menschen giebt, hat es auch Neid, Bosheit und Egoismus unter ihnen gegeben, und der Kampf gegen die durch diese Fehler hervorgebrachten Leiden wird fortdauern bis an den jüngsten Tag. So lange die Welt steht, wird aber auch Güte, Milde und Liebe unablässig ankämpfen gegen diese und

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Hendler
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_482.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2023)