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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Namen, die man ihnen z. B. in England und in Spanien gab: Gipsy und Gitano, deuten auf diesen Glauben hin.

Das spätere Mittelalter suchte die Zigeuner auch mit den Juden und Mauren zu identificiren. Nachdem nämlich der Maurenherrschaft in Spanien durch die Einnahme von Granada 1492 ein Ende gemacht worden und die Zigeuner damit ihre Beschützer verloren, nachdem vollends die furchtbaren Maßnahmen der Christen gegen die Mauren und Moresken, Juden und Maranos in großem Stil betrieben wurden, die unerhörten Massenaustreibungen begannen, flüchteten auch zahllose Zigeunerfamilien, ehe noch die strengen Verordnungen gegen sie erlassen wurden, und dann in Folge derselben, in die angrenzenden Länder Europas, in denen man sie nun vielfach für Mauren und Juden hielt.

Die Folgen dieser Verwechslung wurden ebenfalls verhängnißvoll; denn nun wurden die Glieder des armen Bettelvolkes nicht allein als Verkörperungen des Teufels, als Zauberer, sondern auch als Ketzer verfolgt; wie den Juden, wurde auch ihnen die Fähigkeit zugeschrieben, durch den Blick, durch die Berührung Pest und andere ansteckende Krankheiten zu erzeugen. Nebenbei machten sie sich durch ihre diebische Natur in empfindlicher Weise bemerkbar, und weil endlich alle Mittel, sie des Umherirrens in den Ländern, des Lebens vom Hab und Gut Anderer zu entwöhnen, fehlschlugen, so wurden auch aus diesen Gründen harte Gesetze gegen sie erlassen, die freilich keine andere Folge hatten, als daß die Zigeuner sich denselben auf jede nur mögliche Weise zu entziehen suchten und sich immer wieder auf Irrfahrten begaben.

Wenn man die ungeheure Reihe von Gesetzen, die gegen dieses Wandervolk erlassen wurden, überblickt, wenn man sieht, mit welcher Strenge dieselben im Allgemeinen gehandhabt wurden, so kann man nur erstaunen, wie die Zigeuner sich und ihre Unabhängigkeit bis in die neuesten Zeiten hinein haben bewahren können und daß sie nicht völlig ausgerottet wurden. Einer der hauptsächlichsten Gründe für diese Thatsache ist jedenfalls die Ausübung der Wahrsagekunst von Seiten der Frauen, die in ihrer Blüthe so viele Reize, so viel Anmuth besitzen, daß sie Jeden für sich einnehmen und wohl durch ihre Schönheit hohe und mächtige Gönner gewannen, welche die Strenge der Gesetze zu mildern wußten.

Die außerordentlich feine und scharfe Beobachtungsgabe, eine gewisse Kenntniß der Welt und der Menschen befähigten die Zigeunerin, mit erstaunlicher Sicherheit aus den Mienen der die Zukunft Erforschenden ihre Vergangenheit und ihre Hoffnungen auf die Zukunft abzulesen, und da sie ihre Aussprüche meist mit geheimnißvollen Ceremonien begleitete, die auf die im religiösen Mysticismus erzogenen mittelalterlichen Menschen einen ungeheuren Eindruck machen mußten, so konnten Anklagen wegen Schwarzkunst, Hexerei etc. leicht genug erhoben werden.

Dabei blieb es aber natürlich nicht, und sobald sich die Inquisition mit den Zigeunern befaßte, mußten diese noch für vieles Andere herhalten: sie sollten wie die Juden ihre Freude daran haben, Kinder zu stehlen, sich an ihrem Blut zu berauschen; sie sollten Menschenfresser sein, und mit Hülfe der Tortur wurden selbstverständlich auch entsprechende Geständnisse, die Alles als unzweifelhaft wahr bestätigten, den unglücklichen Opfern entlockt. So wurde durch Anwendung der Tortur z. B. erwiesen, daß 1629 einige solche cannibalische Zigeuner Reisende, hauptsächlich Mönche, überfallen, getödtet und gehörig gebraten und gewürzt und unter großen Ceremonien verspeist hätten. Im Jahre 1782 wird von Frankfurt am Main berichtet, daß fünfundvierzig Zigeuner und Zigeunerinnen wegen Menschenfresserei hingerichtet, hundertfünfzig andere in Kerkern gefangen gehalten wurden. So weit ging die Verblendung noch am Ende des vorigen Jahrhunderts.

Daß den Zigeunern in den verschiedenen Ländern der Gebrauch ihrer eigenen Sprache und Tracht verboten wurde, ist hiernach kaum des Erwähnens werth, aber auch die auf die Sprache bezügliche Verordnung hatte keinen dauernden Erfolg: die Zigeuner haben bis auf diesen Augenblick noch ihre Mundarten beibehalten; nur wurden in den einzelnen Ländern viele Wörter aus den Sprachen derselben in die ihrige aufgenommen, der Art jedoch, daß z. B. das Caló der spanischen Zigeuner weit davon entfernt ist, spanischer Dialekt geworden zu sein, sondern immer noch die ursprüngliche grammatikalische Structur des Indischen bewahrt hat.

Der Charakter und das Wesen des Zigeuners mußten im Mittelalter noch um so mehr Anstoß erregen, als jene Zeit keine Entschuldigung für das Abweichende im Wesen des Zigeuners hatte. Der Ungebildete mißt eben Alles nur an sich, erkennt als richtig und gut nur das ihm Bekannte, von den Vätern Ererbte, von den Priestern Vorgeschriebene an. Die Hinterlist, die Neigung zum Diebstahl, der Trieb zum Vagabondiren, der Widerwille gegen jede bestimmte Thätigkeit sollten durch Gesetzesmacht ausgetrieben, die freien Kinder der Natur sollten zur Stetigkeit gezwungen, ihre Eigenart mit Gewalt vernichtet werden. Durch die Macht des Glaubens und des Schwertes vermeinte man Alles wirken zu können. Wie sehr man aber in der Wahl der Mittel gegenüber den Zigeunern irrte, hat selbst die hochgebildete Maria Theresia bewiesen, die, von lebhaftestem Interesse für die Fremdlinge erfüllt, die Aufbesserung ihrer Existenz auf das energischste erstrebte.

Als Mittel dazu erkannte sie die zwangsweise Ansiedelung, die dem Wesen des unruhigen Wandervolkes durchaus entgegenstand. So blieb denn nicht aus, daß die gutgemeinten humanitären Maßregeln der Kaiserin die entgegengesetzte Wirkung ausübten, den passiven Widerstand der Zigeuner steigerten und diese endlich zur Flucht zwangen, was die Kaiserin natürlich als Undank betrachtete. Karl der Dritte von Spanien war in seinen Maßnahmen glücklicher: Er verordnete zunächst, daß die Zigeuner, wenn sie irgend ein Gewerbe trieben, als spanische Staatsbürger betrachtet und in der Ausübung ihrer selbsterwählten Thätigkeit in keiner Weise gestört werden durften; er schrieb also den Zigeunern nicht bestimmte Gewerbe vor, sondern überließ dieselben ihrer eigenen Wahl. Sie konnten somit die ihnen inwohnenden Fähigkeiten nach ihrem Belieben entwickeln und daneben alle Rechte der spanischen Staatsbürger und viel größere Freiheiten als diese genießen, da der Glaubenszwang, der sich an ihnen als völlig nutzlos erwiesen, nicht streng gehandhabt wurde.

Aehnlich waren auch die Verhältnisse, unter denen die Zigeuner in Ungarn lebten. In allen übrigen Ländern aber setzten sie dem Drucke, der gegen sie ausgeübt wurde, zähe Passivität und unüberwindlichen Indifferentismus entgegen und suchten das Wenige, was sie zu ihrer Existenz brauchten, zu erlangen, wo und wie es möglich war. Der Zigeuner ist seinem Wesen nach ein zügelloses Naturkind, das keine Fessel ertragen kann, die ihm den Genuß der unbeschränktesten Freiheit beeinträchtigt. Er ist im Grunde von der größten Harmlosigkeit und Gutmüthigkeit; wie überall der Ohnmächtige dem ungerechten Drucke des Mächtigen erst passive Duldung, dann Hinterlist und endlich Rachsucht entgegensetzt, so that und thut es unter den gegebenen Verhältnissen auch der Zigeuner; er wurde und wird gerade so wie der Indianer schlecht in Folge der schlechten Behandlung. Viele der Vorwürfe, die gegen seinen Charakter erhoben werden, fallen daher Denjenigen zur Last, die mit ihm im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende verkehrten; die meisten der an ihm gerügten Charaktereigenschaften haben ihren Ursprung allerdings in der Paria-Existenz, die seine Vorväter ungemessene Zeiten hindurch in Indien zu erdulden hatten. Der an ihm getadelte Leichtsinn ist freilich allen Naturkindern eigen; sie wissen den Besitz nicht zu schätzen; sie leben von Augenblick zu Augenblick und folgen lediglich den Eingebungen ihres momentanen Empfindens. Wenn man dem Zigeuner Treulosigkeit zur Last legt, so trifft dies nur da zu, wo man ihn durch falsche Behandlung treulos gemacht hat. Die Feigheit liegt nicht von Natur in seinem Wesen, sondern ist durch jahrhundertelange unwürdige Unterdrückung erzeugt worden; so findet man z. B. in Spanien und Ungarn viele sehr bemerkenswerthe Ausnahmen; der spanische Stierfechter kann, wenn er Feigling ist, nie Ruhm erlangen; es gehört dazu die größte Unerschrockenheit, Ruhe und Kaltblütigkeit, Eigenschaften, die mit der Feigheit unvereinbar sind – unter den spanischen Stierfechtern sind aber manche der namhaftesten zigeunerischen Ursprungs.

Die Neigung zum Diebstahl ist dem Zigeuner nicht abzusprechen; auch sie wie die Heuchelei, die scheinbare Demuth und die Rachsucht sind die Folgen des indischen und europäischen Pariathums. Seine Abgeschlossenheit gegen alles Fremde ist ebenfalls nur die Reaction gegen die Behandlung, die ihm von den Mitmenschen zu Theil geworden ist. Er lebt nur sich, seiner Familie, seinem Stamme und meidet die Berührung mit andern als seinen Rassegenossen. Dies gilt besonders von den Zigeunerinnen, und da wieder vorzugsweise von denen Spaniens; eine granadinische Zigeunerin würde es für ein Verbrechen an ihrem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_463.jpg&oldid=- (Version vom 25.3.2023)