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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Ueber eine Woche war vergangen. Eine Woche, die draußen in der Natur mit Sturm und Regen begonnen hatte, nach ein paar Uebergangstagen aber gleichsam durch einen neuen Sommer überraschte. Es war eine Wärme in der Luft – ganz wundersam: Schwärme von Mücken tanzten wieder; verspätete Schwalben jagten und Schmetterlinge, weiße, matte, sonnten sich ein letztes Mal.

Nicht sonderlich anders war es in Alma’s Gemüthsleben ergangen. Sie hatte sich in den ersten Tagen nach Hollfeld’s Abschied immer von Neuem in’s Gedächtniß zurückgerufen, was dabei gesprochen worden: und seltsamerweise war ihr gerade der Ausdruck seiner Mienen bei dieser und jener Wendung des Gesprächs gleichfalls mit erschreckender Deutlichkeit gegenwärtig gewesen. Nicht seine Worte ängstigten sie darum so, wie das, was er trotz seiner Weichheit in den letzten Augenblicken jetzt über sie denken möchte. Schon hatte sie deshalb beschlossen, ihm noch einmal Alles zu schreiben, was nur angedeutet, was gar nicht berührt worden, ihre ganze Schwäche, aber auch ihre Stärke – doch wozu? wozu noch? Die Frage gab schließlich den Ausschlag, es nicht zu thun. Und war es denn überhaupt etwas so Unverzeihliches – vor solchem sich Herumstoßen in der Fremde, wie vor dem Zusammenleben mit dieser Stiefmutter ein völlig unbezwingliches Grauen zu haben?

Thränen waren ihr immer Erleichterung. Nur an dem Morgen von Hollfeld’s Abreise hatte sie keine gefunden: da war sie ruhelos durch Garten und Haus geirrt und hatte ihr einziges Genügen daran gehabt, ihn zu geleiten von Station zu Station. Und als ihre Gedanken am Abend gleichsam still standen, er an Ort und Stelle sein mußte, da war es erst über sie gekommen – das Gefühl des Geschiedenseins auf ewig.

Doch die erschöpfte Seele verlangt nach ihrem Gleichmaß, nimmt darum das Geringste, was dazu verhilft, mit doppelter Dankbarkeit hin: und Alma’s Vater, sobald er fühlte, daß sein Zweck erreicht war, die Liebe zu Hollfeld seinen Plänen – mindestens nicht mehr hindernd im Wege stand, hatte der Tochter gegenüber sofort wieder die alte joviale Weise angenommen, die ihn so liebenswürdig und Alma zufrieden und ruhig machte. Er schien ihr dann ja nur ein älterer Freund und sogar ein milder, kein strenger. Besonders jetzt that er ihr durch wahrhaft freie, jedoch wie ganz selbstverständliche Zuvorkommenheit zu Liebe, was er wußte, und hatte wohl auch Frau von Lossen bewogen, sich ihr mehr zu nähern. Diese holte sie an zwei Tagen hinter einander zu Morgenspaziergängen ab und plauderte dabei so ungezwungen und heiter, daß Alma diesem Grundzuge ihrer eigenen Natur um so weniger besonderen Widerstand entgegensetzte, als keinerlei Anspielung auf Vergangenes fiel. Eine solche konnte aber nicht fallen, da Ruland zu Niemand, selbst zu Frau von Lossen nicht, über Alma’s Neigung gesprochen hatte, um derselben so wenig als möglich Gewicht beizulegen und, wenn Vermuthungen oder Klatschereien bis zu Zellina’s dringen sollten, diese mit einem Scherzworte beseitigen zu können. Doch nicht einmal der Abwehr bedurfte es: der Geheimrath, welcher bereits den ganzen Sommer über gekränkelt, darum viel an’s Zimmer gebunden war, hatte keine Beziehungen nach Misdroy unterhalten, Bob war erst kürzlich angekommen, und vor Allem – der Verkehr zwischen Alma und Hollfeld hatte sich bisher nur in den einfach galanten Formen bewegt, die zwischen einem schönen Mädchen und einem feurigen jungen Officiere so natürlich sind.

Am Ende jenes zweiten Spaziergangs waren die Damen scheinbar zufällig Bob begegnet. Er schloß sich denselben an und machte auf Alma durch sein gehaltenes, wie unter leise Schwermuth gebanntes Wesen den günstigsten Eindruck. Selbst seine hohe Figur hatte, wenn er sinnend vor sich hinsah, etwas Gebeugtes, was Alma früher nicht bemerkt zu haben glaubte: dabei trat aber in keiner Weise Gesuchtes oder Forcirtes hervor; man ahnte nur, daß ihm etwas angethan sein müsse – daß er leide. Und Alma war immerhin junges Mädchen genug, es nicht quälend zu empfinden, daß sie die wahrscheinliche Ursache davon sei. Dieses Bewußtsein gab ihr nur etwas Befangenes – was freilich ihre noch ein wenig matte Erscheinung auf’s reizendste hob und Bob schließlich trotz aller Vorsätze wieder offen zeigen ließ, wie jeder seiner Gedanken von ihr beherrscht würde. So nahm man vor dem Hause, wo Ruland’s wohnten, einen verhältnißmäßig langen Abschied und Alma vergaß auf der Treppe, wer hier auch gegangen war – zum ersten Mal seit Hollfeld’s Scheiden. Sie sprach Bob dann nochmals und zwar auf längere Zeit; der Geheimrath besuchte wiederholt ihren Vater, wobei die Herren besonders herzlich gegen einander waren – bis der Pathe einmal wieder vorfuhr und in aller Form den Freiwerber für den Sohn machte. Ihr Vater stand leuchtenden Blickes dabei; der Pathe wußte so warme Worte für seinen Bob zu finden – und für den neuen Sonnenschein, der mit ihr auch für ihn, den Alten, Kranken in’s Haus und Leben dringen müsse. Kurz ihr Ja kam ihr gar nicht so schwer an, als sie sich das gedacht hatte.

Natürlich bestand der Geheimrath, schon damit sich sein bekannter Ruf, die beste Küche und die gewähltesten Weinkeller in der Stadt zu besitzen, wieder glänzend bewähre, auf einem solennen Verlobungsdiner. Alma hatte sich in so viel mehr gefügt – von ihrer Seite fiel kaum eine Einwendung.

So kam und ging denn auch dieser Tag, und Bob hatte mit tiefster Genugthuung gehört, wie sich Alma durch ihre Anmuth und ihr unter der Last des Glückes gleichsam erliegendes Wesen die Herzen aller Gäste erobert hatte. Das mußte er ihr noch sagen und noch viel mehr – so zog er, als die letzten fremden Equipagen fortgerollt waren, ihren Arm unter den seinigen und trat mit ihr auf jenen Balcon heraus, wo sie damals gestanden, als Alma vor ihm geflüchtet war. Mit glücklichen Augen erinnerte er sie daran.

(Fortsetzung folgt.)




Die Zigeuner.

Von Gustav Diercks.

Es giebt Menschen, die unter allen Umständen, an allen Orten und in jeder Gesellschaft durch ihre Persönlichkeit und die scharf ausgeprägte Eigenart ihres Wesens die Aufmerksamkeit auf sich lenken und auf Alle, mit denen sie in Berührung kommen, einen eigenthümlichen entweder anziehenden oder abstoßenden Eindruck machen. Die Stelle solcher absonderlicher Einzelindividuen vertritt in der europäischen Völkergesellschaft der wunderbare Stamm der Zigeuner, deren Eigenart, deren Lebensumstände, deren Charakter nun schon seit Jahrhunderten das Interesse nicht nur der Völker Europas, sondern auch der gelehrten Welt auf sich gelenkt haben.

Die rapide Culturentwickelung der letzten Jahrzehnte hat ja nun allerdings der civilisirten Welt eine völlig neue Physiognomie gegeben, die frühere Weltanschauung völlig umgestaltet und selbst an den Zigeunern schon theilweise mit Erfolg ihre unfehlbare Kraft erprobt, trotzdem aber erweckt auch heute noch das Erscheinen von Zigeunern selbst bei manchen Gebildeten Regungen, bald von Verachtung, bald von Mitleid, hier von Scheu, dort von Furcht, und das einfache Wort Zigeuner beschwört heute noch – in der Hauptsache natürlich nur in den niederen Schichten der Gesellschaft – alle jene thörichten Vorstellungen von Kinderraub, von der Kraft des „Besprechens“, von Zauberei etc. herauf, die man früher damit verband und die noch in der Kindheitsperiode des jetzigen Geschlechts die herrschenden waren.

Das Verfahren, das man heute noch in manchen Culturländern den wandernden Zigeunern gegenüber beobachtet, die rücksichtslose Vertreibung der armseligen Banden, trägt freilich auch nicht gerade dazu bei, die Anschauungen von den Zigeunern zu bessern, wie diese strengen Maßnahmen auch nicht geeignet sind, auf diese Leute erziehlich und wohlthätig zu wirken; sie machen im Gegentheil die Heimathlosen, für kurze Zeit Obdach und Unterhalt Suchenden zu Dieben, zu verstockten Lügnern; sie fordern dieselben auf, alle Schattenseiten ihres Wesens hervorzukehren. Nachdem wir durch die Völkerkunde und Culturgeschichte hinlänglich über das Wesen der Zigeuner und die Ursachen desselben aufgeklärt worden sind, sollte man nach dem Satze: „Alles verstehen, heißt Alles dulden“ annehmen, daß die Gebildeten und in erster Linie die Behörden veraltete Vorurtheile und die Anwendung falscher und veralteter Mittel zur Besserung der Zigeuner aufgeben würden –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_460.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2023)