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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Heimath nicht mehr behaglich fühlten und nur dort weiter gediehen, wo keine Umwandlung zu verspüren war, so geschah es auch mit den Menschen. Eine der breitesten Lücken, welche die germanische Sturmfluth in den zusammenhängenden Ring der Rhätier einriß, deren Rede sich mit dem Latein der alten Eroberer verquickt hatte, ist diejenige, die zwischen dem Engadin und den Gebirgen des Eisakthales klafft. Dort ist aus der alten Val Venosta das heutige Vintschgau und aus dem romanischen Pauzanum, Bolsanum, das deutsche Bozen geworden. Die Rhätier haben deutsch reden gelernt – oder sie gedeihen drinnen in den Hochthälern, auf den Matten unter den bleichen Dolomitbergen. Dort hausen sie heute noch, die „Ladins“.

Das anziehendste aller ladinischen Thäler ist Gröden, das bei Waidbruck zwischen Brixen und Bozen in’s Eisakthal ausmündet und sich nach oben, wo seine Wasser zusammenrinnen, in große Kalkwüsteneien hinein verästelt. Es ist schön, grün, wasserreich, von wundervollen Bergen umringt, unter denen die grünende, von zahlreichen Heerden und munterem Sennervolk belebte Seiseralpe obenan steht. Wer dieses herrliche Stück deutscher Erde nicht gesehen, den mögen von der Wahrhaftigkeit unseres Lobes die trefflichen diesem Artikel beigefügten Püttner’schen Zeichnungen überzeugen.

Im unteren Theil des Thales haben sich die Ladins nicht erhalten. So weit wärmere Luft reicht und Fruchtbäume stehen, hat auch der Verkehr seine Wellen herein geworfen. Die Zunge des Verkehrs aber ist deutsch. An dieser Seite des Gebirgs hängen die Ladins an Zirben und Fichten. Ihre Sprache gehört zur Alpenflora.

Die Ladins sind in ihren eigenen Augen, gleich den Rumänen, die echtesten aller Abkömmlinge des Römervolkes. Jetzt schnitzen sie dort oben, hoch in ihren Berghäusern, von denen viele so weit über das Meer aufragen, wie Brocken oder Schneekoppe, einen nicht geringen Theil der Spielwaaren, welche in hercynischer Tiefebene das Christkind seinen deutschen Schützlingen bringt.

Das ist so zugegangen. .... Doch wozu ein geschichtlicher Excursus? Es ist ebenso wenig auf Jahr oder Tag hinaus festzustellen, wann die Grödener anfingen, ihre Spielwaaren zu schnitzen, wie es von den Berchtesgadenern oder Oberammergauern bekannt ist, oder wie man weiß, wer in Mittenwald die erste Cither gemacht hat. Packen wir die Sache von ihrer sinnlichen, malerischen Seite!

Ich habe in meinem „Deutschen Alpenbuch“ (Glogau, Flemming) gesagt: „Jetzt war der Abstieg zum Ladinergebiet erreicht. Weit schaute das Auge auf die blauen Gipfel von Cadore, in die fernen Corridore, die nach Wälschland hinabführen zu den Palästen des Venediger Landes. Dort grünt der Lorbeer, rauschen die Brunnen und stehen weiße Bilder – hier oben aber, auf der armen Höhe, liegen Zirbenklötze, mit Zweigen zugedeckt. ‚Das werden Rösser,‘ sagt der Führer. Das heißt, es kommen Männer herauf, welche die Hölzer mit fortnehmen und daheim Pferde und ähnliches Spielzeug daraus schnitzen. Bald fällt vielleicht das Licht des Weihnachtsbaumes in festlicher Stube auf die Rösser, die jetzt noch in diesen Klötzen eingeschlossen sind.“

Ich setze nunmehr andere Bilder hinzu.

Am Abhang von St. Christina, wo der Wasserfall gegen die vielblumigen Wiesen herabstäubt – im Angesicht des Langkofel, um den langsam die Wolken wandeln, gehen gebückte Gestalten, Weiber und Kinder. Sie beugen sich unter Tragkörben. Unter dem Tüchlein, welches oben über den Korb gebreitet ist, schauen Füße von Thieren, Schellenkappen von Hanswursten heraus. Sie „liefern ab“. Der „Verleger“ unten in St. Christina oder St. Ulrich ist es, dem sie zuschleppen, was während der letzten Woche daheim, bei Sonnenschein oder bei Lampenlicht, von Alt und Jung aus dem Holze herausgearbeitet worden ist.

Nicht selten sind es auch die Bilder des gekreuzigten Erlösers oder von Heiligen, die da langsam von mühseligen Menschen am Rande der Felswände dahin getragen werden.

Wieder ein anderes Bild!

Es ist Mitternacht. Mit mächtigerem Rauschen (wie das scheinbar oder in Wirklichkeit zur Nachtzeit alle Wasser thun) zwängt sich der Thalbach den Engpässen entgegen. Der deutsche Bauer drunten im Eisakthale liegt schon seit Stunden in den Federn, nachdem er sich, wenn nicht müde gearbeitet, doch müde gebetet hat. Hier glänzen helle Punkte, hinauf, weit hinauf an den Matten bis unter die grauen Wände hin. Es sind nicht Glühwürmer im Nadelwald; es sind nicht Feuer der Hirten. Hier brennen die Lampen, und hinter den Lampen sitzen die Menschen mit ihren Messern. Da häufen sich Hügel von ganz rohen Schafen, Hunden, Kühen und Ziegen, die alle im Handumdrehen gemacht werden und für deren eines nicht einmal ein ganzer Kreuzer als Entgelt abfällt. Da wachsen die Gliederpuppen und die Wiegenpferde aus Blöcken von Fichten- und Föhrenholz heraus.

Es geht hier allenthalben umgekehrt zu, wie bei den „Verwandlungen“ des lateinischen Dichters. Hier tritt die menschliche Gestalt aus dem Holze heraus, während sich bei dem Poeten so oft die hüllende Rinde eines Baumes hinter der verfolgten Nymphe schließt und ihre emporgestreckten Arme als lange Aeste gegen den Himmel schauen.

Wieder ein Bild! Hoch oben auf der Bergwiese glänzt ein weißes Haus, auf der Sonnenseite des Thales. Es ist ein mühsames Gehen dort hinauf, auf den schmalen Wiesenwegen, zwischen den Gerstenfeldern hindurch – wenn die mittägige Sonne sich an die jähen Halden legt. Dort oben im sauberen Hause wohnt ein gerühmter Bildschnitzer. Bei ihm finden wir lebensgroße Gestalten der heiligen Geschichte – vielleicht auch Jagdstücke, kunstvolle Becher. Der Schnitzer ist der vornehmste unter den Arbeitern oben. Er schafft nicht für einen „Verleger“; er braucht keinen Vermittler zwischen seiner Arbeit und denjenigen, die ihrer bedürfen. An ihn wenden sich Gemeinden und Pfarrer, die ihre Kirchen verschönern wollen. Gleichwohl kommt seiner Behausung das Aussehen einer kleinen Fabrik zu – denn die Brüder und anderen Gehülfen im größeren Raume beschäftigen sich als „Faßmaler“. Schon der Leimgeruch der Farben, die Ausdünstung der Lacke deutet uns an, was diese treiben. Hier malen sie dem heiligen Johannes seinen schönen, mädchenhaften, etwas hektischen Teint und die goldblonden Haare an; dort umgeben sie den Wundenrand eines Märtyrers mit blutigem Carmin. Man findet da Gesellschaften in golden und silbern strahlenden Gewändern von ganz seltsamen Geberden und Stellungen, welche die Gestalten gegen einander einnehmen.

Auch die Unglückstafeln, an denen das Hochthal ein ziemliches Bedürfniß hat, werden vom Faßmaler angefertigt. Er stellt die Begebenheit dar und liefert auch den Text, und zwar je nach Wunsch in italienischer oder deutscher Sprache; denn zur Schriftsprache hat sich das Grödenische noch nicht zu erheben vermocht. Es ist, nebenbei gesagt, sehr schwer, einen Brief in dieser Sprache sich zu verschaffen. Außer dem Curaten Vian, der eine Grammatik geschrieben, sind nur von ein paar Sprachforschern kleine Texte im Ladin veröffentlicht worden. Auch mit ihrem Gott reden die Ladins nicht in der Muttersprache. Es wird deutsch, zumeist aber italienisch gepredigt, und wer etwa bei einer Procession den Weibern zuhört, die mit ihren hohen schwarzen Wollmützen, denen blaue Bündchen als Zierrath angeheftet sind, betend einhergeschritten kommen, der wird sich bald überzeugen, daß es die angelernte Kirchensprache ist, in welcher sie die Formeln hersagen.

Die Häuser in Gröden sind zumeist sauber, aber als die schönsten muß man, wie leichtbegreiflich, die der „Verleger“ gelten lassen. Die „Verleger“ sind es, welche das meiste Geld haben. Insam und Prinoth werden heute als erste „Firma“ genannt. Das wichtigste aller Verlegerhäuser ist aber das von Purger, für die Geschichte des Thales wenigstens; hat es doch zum ersten Mal der Grödener Arbeit Gebiete über dem Meere erschlossen. Purger war der erste große Kaufmann im Thale. Ihm ist es zu danken, daß die Grödener eine Straße haben. Denn, es darf daran erinnert werden: früher mußten sie mit ihren Tragkörben den Abgrund umgehen, in welchem der Thalbach zum Eisak vorbricht.

Längs des natürlichen Weges, den das Wasser vorzeichnet, konnten sie nicht hinauskommen. Es ist dort eine Klamm hinter der anderen, und die Traufen der angeschmetterten Wellen im untern Lauf des Thalbaches, der als ein langhingestreckter Wasserfall gelten kann, sprühen hoch in den Schatten der Felsen hinein. Da mußten sie hoch oben herumklettern, die Träger, über Laien und St. Peter, und weit über den Porphyrwall hinsteigen, der dem Thale vorgelagert ist. Sie waren zu steigen genöthigt, um in die Tiefe zu kommen. Purger erklärte es für seine Aufgabe, der Mühsal abzuhelfen, aber er hatte ohne die Staatsweisheit jener Tage gerechnet. Es darf nicht Straßen bauen, wer da will, wer sie zu nützen trachtet und den Bau selbst zahlt. Vier, fünf Reisen nach Wien, der allunterthänigsten Vorstellungen vor den höchst Gewaltigen, der Bücklinge und Bitten bedurfte es, bis den armen Grödenern

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