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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

entfesselt zu haben, und die eigenthümlichen Waffen und Costüme wirkten auf den Beschauer fast sinnverwirrend — es war eben Alles echt und historisch treu, Alles künstlerisch.

Um eineinhalb Uhr begann der Festzug. Der Kronprinz hatte auf der Rathhaustreppe Stellung genommen, um dem sich nunmehr entwickelnden Festreigen zuzuschauen.

Ob es nothwendig war, daß dem Festzuge circa ein halbes Dutzend Gensd'armen vorauf ritt, mag hier unerörtert bleiben; jedenfalls berührte diese Maßregel eigenthümlich. Auch übergehen wir die Aufzüge der Schützen und Turner von Bernau; ihr Auftreten erinnerte stark an die modernen Schützen- und Turnfeste.

Diesem Vortrabe folgte der eigentliche Festzug; eröffnet wurde er durch die Brandenburger, welche 1432 den Bernauern von Spandau aus zu Hülfe eilten; voran schritt ein Trompeter, dahinter der Bannerträger und hinter diesen, im pelzverbrämten Gewande inmitten seiner Mannen, der Kurprinz (nachmaliger Friedrich der Zweite), welcher sich damals vor Bernau die ersten Sporen verdiente; seine Umgebung bestand aus dem Feldhauptmann und den sich zu jener Zeit in Spandau aufhaltenden fürstlichen Personen. Zwölf berittene Brandenburger schlossen sich an diese an; ihnen folgte das brandenburgische Fußvolk. (Vergl. unsere Abbildung Seite 425.)

Es war ein buntes, farbenprächtiges Bild. Die kriegerischen Gestalten, die phantastische Kleidung, die stählernen, mit emporstarrenden Federn geschmückten Kopfbedeckungen, das bunte Gemisch von Waffen, die urwüchsigen Pantomimen und Geberden mußten auf den Beschauer den Eindruck des Vollendeten machen. Bogen- und Armbrustschützen beschlossen diese Scenerie. Rühmend sei hierbei der Herren Bildhauer Hoffmann, Paulssen und Thomas gedacht, welche sich um die Organisation der „Brandenburger“ besonders verdient gemacht haben. Der „Schmied von Bernau“ (Herr Thomas), der „Münzjude“ (Herr Salzmann, Theilnehmer an der Reise des Prinzen Heinrich um die Welt) und viele Andere waren Erscheinungen, wie sie künstlerisch vollendeter nicht gedacht werden konnten.

Ein grelles Farbenbild boten die den Brandenburgern folgenden Bernauer. Bogenschützen und Lanzenträger umringten das Stadtbanner; ihnen folgten, gemessenen Schrittes und auf den Stab gestützt, der Bürgermeister von Bernau (Herr Maler Hertel) und die Stadträthe; an sie reihte sich der in rothe Tricots gekleidete Scharfrichter mit der Schandmaske, Ketten und Stricken im Gürtel; ihm folgten die Geistlichkeit, Bernauer Bürger und der Ablaßkrämer mit dem Hundewagen. Die Verschiedenheit der Farben war überraschend; die getreue Wiedergabe derselben hätte wohl selbst dem farbengewandten Makart Schwierigkeiten gemacht.

„Die Hussiten, die Hussiten!“ So ertönte es aus tausend Kehlen, als die böhmischen Glaubensstreiter mit landesüblicher, ohrenzerreißender — aber historischer — Musik (Dudelsack, Violine, Tambourin etc.) durch das Mühlenthor hereinzogen. War man schon vorher im Publicum davon unterrichtet, daß der Glanzpunkt des Festes der Hussitenzug sein würde, so wurden doch alle Erwartungen durch die nunmehr folgende Scenerie übertroffen: die Naturwahrheit konnte nicht drastischer zum Ausdruck gelangen, als in dem Hussitenzuge; der Anblick dieser verwegenen, herculischen Gestalten wirkte fast beängstigend. (Vergl. S. 429.)

Unter Vortragung der Hussitenfahne, der die böhmische folgte, zogen die kampflustigen Gesellen wie eine Heerde Wilder dahin; das Haar unter der phantastischen Kopfbedeckung wild herabhängend, den Oberkörper bedeckt mit Bären- und Schafpelzen, bekleidet mit Rüst- und sonstigen Panzerstücken, bewaffnet mit Morgensternen, Lanzen, Keulen, Aexten, Hämmern, gerade gebogenen Sensen! In diesem Zuge befanden sich außerdem Troß- und Streitwagen, von Ochsen gezogen und mit widerlich häßlichen Hussiten besetzt; die Reiter saßen auf fast unbekleideten Pferden; anderes Fußvolk schleppte Sturmleitern und Beutestücke mit sich, und auf einem der Troßwagen stand ein hussitischer Prediger, den Schaaren den Segen spendend; zerlumpt, mit blutigen Binden über den zerfetzten Gesichtern und um die Köpfe, Stroh in den Schuhen, zogen die böhmischen Glaubensstreiter an dem Zuschauer vorüber, und als sie vorbei waren, fragte man sich unwillkürlich: „Traum oder Wirklichkeit?“ Denn man hatte ja soeben die Hussitenzeit in der treuesten Wirklichkeit gesehen.

Die hervorragendsten Hussitenfiguren waren: Kosca, der grimme Hussitenführer vor Bernau, dargestellt durch Herrn Lessing, Sohn des Malers der „Hussitenpredigt“. Eine reckenhafte Erscheinung, bekleidet mit einem wahrhaft infernalischen Costüm, auf dem Haupte einen zweifelhaften Filz mit mächtigen Adlerflügeln, über dem Rücken ein Riesenschaffell, bis an die Zähne bewaffnet! Herr Dr. Jacobsen war als Hussit mit eherner Helmkappe und mit einem ungeheuren Bärenfell bekleidet; Herr Röchling figurirte als Bannerträger. Humoristisch berührte der von den Hussiten in czechischer Sprache oft wiederholte Ruf: „piwo, piwo, piwo cervené!“ („Bier, Bier, braunes Bier!“), welcher an die oben erwähnte Episode aus der Belagerung Bernaus erinnerte.

Der Festzug war mit dem Aufzuge der Hussiten beendet, und das kronprinzliche Paar, von dem Gesehenen sichtbar erfreut, verließ nun die kleine Provinzialstadt, aber die wilden Horden begannen jetzt Bernau als ihre Stadt zu behandeln; „Künstlervolk — ein leichtlebiges Volk“! Gruppenweise zog man durch die Straßen; die Hussitencapelle brachte bald hier, bald dort ein Ständchen, ja sogar ein Minnesänger ließ von der Rathhaustreppe herab seinen Gesang erschallen.

Der Raum gestattet uns leider nicht, auf die am Nachmittage stattgefundene „Hussitenfahrt“ nach Lanke, einem dem Grafen Redern gehörigen Grundbesitze, hier einzugehen; erwähnt sei nur noch, daß dort im frischesten Waldesgrün trotz der ungünstigsten Witterung der ungetrübteste Frohsinn und echt künstlerisches Leben vorherrschend waren. Eine herrliche Scenerie bot sich dem Auge dar, als der bunte Zug, auf Leiterwagen placirt, die Fahrt nach Lanke antrat.

Abends nach Bernau zurückgekehrt, durch die kriegerische Thätigkeit am Tage ermattet, traten die Künstler die Rückfahrt nach Berlin an. — Jeder von ihnen konnte mit Genugthuung das Bewußtsein mit nach Hause nehmen, sein Bestes zu einer hervorragenden Feier beigetragen zu haben.

Hoffen und wünschen wir, daß nach diesem Erfolge die bekannte Schwerfälligkeit und Abneigung des Nord- und Mitteldeutschen gegen solche historische Gedenkfeier mehr und mehr schwinden wird! Gerade durch solche Feier vaterländischer Gedenktage wird das Nationalbewußtsein wach und rege erhalten!

Pvl.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_427.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)