Seite:Die Gartenlaube (1882) 421.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

No. 26.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Engelid.

Novelle von Balduin Möllhausen.
(Schluß.)


5.

Die Straße war bereits menschenleer und abendstill geworden, und wie schlummernd lag das grüne, gigantisch begrenzte Thal vor dem einsamen Knut. Rauchsäulen entstiegen den Schornsteinen; hier und da weideten Rinder und kleine Gebirgspferde, oder sie lagerten bereits auf dem feuchten Rasen.

Dumpf brauste der Elf; es brausten die zahlreichen Gießbäche, die sich in jähem Sturz dem schäumenden Elf zugesellten, und wie ein gewaltiger, tief gedämpfter Orgelton erfüllte es den gewundenen Thalkessel; es klang wie geheimnißvolle Mär aus ferner Vergangenheit, aus jenen Zeiten, in welchen die schöne Ingeborg ihre Füße in den klaren Fluthen des Lärdalself kühlte und sehnsüchtig den Helden Frithjof erwartete.

Schattiger, dämmeriger wurde es ringsum, und im Dunkel verwischten sich allmählich die äußeren Formen der alten Holzkirche. Einem vielköpfigen Ungeheuer ähnlich lag sie vor dem träumenden Knut – da erklang es von der Straße her wie das Rollen eines Wagens. Um nicht von den Vorüberfahrenden angeredet zu werden, glitt Knut auf der Innenseite der Mauer zur Erde, sich mit Armen und Haupt auf die oberste Steinschicht stützend.

Näher kam das Gefährt. Die Dunkelheit hinderte ihn, die auf demselben Sitzenden zu erkennen, und im Geräusch der Räder verhallten die Stimmen der Daherfahrenden. Aber nun hielt der Wagen ihm gegenüber an.

„Sei herzlich bedankt!“ sagte eine Stimme, die Knut alles Blut zum Herzen trieb, und er gewahrte, daß von dem zweisitzigen Karriol eine Gestalt leichtfüßig zur Erde sprang, „die paar Schritte gehe ich schnell genug hinüber, und nochmals sei bedankt, daß Du mich so weit mitgenommen hast!“

„Dafür nicht, Engelid!“ antwortete es aus Männermunde, „es war mir eine Lust, Dir gefällig zu sein. Und nun gute Nacht! Grüße mir den alten Ornesen, und ich laß ihm gute Geduld und Besserung wünschen!“

Die Peitsche knallte; das Pferd zog an, und Engelid’s Gegengruß erstarb in dem Rollen des Wagens.

Knut stand wie gelähmt, die Blicke starr auf die hohe, schattenähnliche Gestalt gerichtet, welche ihre Röcke schüttelte und sich zum Gehen anschickte. Ihm war, als befände er sich angesichts eines ihn verurtheilenden Richters. Er entsann sich der spöttischen Reden, die er bei dem Gelage in der Schenke über Engelid führte, und schwerer, denn je zuvor, lastete auf ihm das Bewußtsein eines an ihr begangenen Frevels. Er meinte ihr nicht mehr gerade in die Augen schauen zu können.

Engelid hatte sich einige Schritte entfernt, als er endlich seiner Sprache wieder Herr wurde. Gedämpft, um sie nicht zu erschrecken, jedoch mit dem Ausdrucke heimlicher Angst rief er sie bei Namen. Engelid blieb stehen; sie hatte die Stimme erkannt, aber sie war so bestürzt, daß sie keine Antwort zu ertheilen vermochte. Sobald sie indessen bemerkte, daß ein Mann sich über die Mauer schwang und auf sie zuschritt, gewann sie ihre volle Besonnenheit zurück. Sie ging Knut entgegen und fragte in ihrer ruhigen freundlichen Weise, ob er es wirklich sei, und wie er es angestellt habe, ihr zuvorzukommen.

„Ueber die Berge bin ich gewandert,“ versetzte Knut heftig erregt, „ich wollte, ich mußte Dich sprechen, bevor Du zu dem Ornesen gingst. Es quälte mich, daß ich Dir die letzten Tage und Stunden vergällte, Du mit heimlichem Zorn, wohl gar mit Verachtung meiner gedächtest. Ja, Engelid, und da setzte ich meine ganze Kraft daran, Dich um Verzeihung zu bitten, weil ich Dir so wehe gethan –“

„Womit solltest Du mir wehe gethan haben?“ fragte sie sanft und tröstlich.

„Engelid,“ stieß Knut hervor, „ich war drüben beim Müller; der hat mir Alles anvertraut – Alles weiß ich, jedes Wort, welches Du einst zu ihm sprachst von Deiner Liebe und Deiner heiligen Treue – Engelid – darum martert’s mich jetzt um so peinvoller.“

„Verrieth er Dir mein Geheimniß, so sagte er wohl nicht mehr, als Du vielleicht bei unserem ersten Wiedersehen in meinen Augen lasest,“ versetzte Engelid etwas leiser, „denn die Augen haben wir Menschen nicht in der Gewalt, wie die Zunge. Und was sollte ich mich dessen jetzt noch schämen, wenn die junge einfältige Engelid sich über die Gebühr mit Hoffnungen trug! Ein Unrecht war’s nimmer. Mit Deiner Ehrlichkeit aber kränktest Du mich am wenigsten. Du gabst mir zu verstehen, gleichviel ob mit gutem Willen oder ohne Wissen, daß wir nicht zu einander gehörten, und das dank ich Dir von Herzen; denn es war besser, zwischen uns keine Täuschung walten zu lassen, als nachträglich zu bereuen, wenn’s zur Umkehr zu spät gewesen wäre.“

„Alles möchtest Du mit Deiner Sanftmuth zudecken,“ erwiderte Knut zerknirscht, „und gerade das brennt mir auf dem Gewissen, wie lebendiges Feuer. Wär’s mir doch lieber, Du begegnetest mir mit bitterem Vorwurf, wie ich’s verdiene; denn ich kränkte Dich dennoch – freilich: ich konnt’s nicht ahnen, daß Du noch einmal mein Haus betreten würdest – Du hast gesehen, daß ich den Kranz zerknitterte, auf die Erde warf und verbrannte sammt allen Kräutern, als ob er von unehrlichen Händen herrührte.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 421. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_421.jpg&oldid=- (Version vom 20.3.2023)