Seite:Die Gartenlaube (1882) 390.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

derselbe auf einer Leiter mühsam den niedrigen Bodenraum erstiegen hatte, um dort sein Lager aufzusuchen, kehrte sie sich Knut noch einmal zu.

„Ich wünsche Dir eine gute Nacht,“ sprach sie mit warmer Herzlichkeit, und unbefangen reichte sie ihm die Hand, „mögest Du hier nicht schlechter schlafen, als im Lyster-Fjord an Deinem eigenen Herd!“

„Ich danke Dir,“ antwortete Knut, ihre Hand ein wenig länger haltend, „dann aber wünsche ich, daß morgen früh unser heutiges Gespräch Dir als ein Traum erscheine,“ und noch bevor Engelid etwas zu erwidern vermochte, fragte er, wo er die Nacht verbringen solle.

Sie wies auf das Bett.

„Mein Lager ist dort in der Kammer,“ erklärte sie, nach einem engen Nebenraum hinüberweisend, „hier hat Olaf sein Leben lang geschlafen, und sein Wille war es, daß bei Deiner Heimkehr Dir der Ehrenplatz im Hause eingeräumt werde. Du hast mir für nichts zu danken; ich erfülle nur meine Pflicht, und noch einmal: Gute Nacht!“

Sie kehrte sich ab und verschwand durch die Kammerthür, welche sie leise hinter sich schloß.

Auf dem Tisch brannte noch die Lampe, und bei ihrem Scheine wandelte Knut einige Male auf und ab. Wie ganz anders hatte er sich seinen ersten Besuch in der bekannten Schärenhütte vorgestellt! Der alte Olaf, der ihm die düsteren Grübeleien fortspielen und -singen sollte, war todt, und die er an seine Stelle setzte, war am wenigsten geeignet, ihm die Heimkehr in eine freudige umzuwandeln.

Es gab wohl eine Zeit, in welcher er für einen Blick aus ihren lachenden Augen wer weiß was hingegeben hätte – allein wo lagen jene Zeiten! Damals war sie ein lustiges Kind, er selbst ein leichtfertiger, sorgloser Bursche. Heute dagegen flößte sie ihm mit ihrem Ernst, mit ihrer stolzen Haltung und der zuversichtlichen Art ihrer Reden eine gewisse Scheu ein, während es in seinem eigenen Inneren aussah, wie in einem auf den heimathlichen Klippen gestrandeten Wrack.

Er wurde des Grübelns überdrüssig. Im Gefühl bitterer Unzufriedenheit mit sich selbst und derjenigen, die seinem Brüten so viel neue Nahrung bot, löschte er die Lampe aus und warf sich unentkleidet auf das Lager. Er wollte ihr nicht die Genugthuung gönnen, ihn sanft gebettet zu haben. Sie sollte am Morgen sehen, daß eine bequeme Stätte ihm nicht lieber gewesen, als der nackte Fußboden; sie sollte nicht wähnen, ihm eine Wohlthat erwiesen zu haben. Mit einem letzten Gedanken an sie schlief er ein, mit einem Gedanken, in welchem Mitleid, Scheu und Zorn sich einten. Aber sogar im Traume ließ sie ihm keine Ruhe. Vor sich sah er sie wieder als jugendliche Tänzerin, deren lachende Augen so glühend die seinigen suchten, daß es ihm fast die Vernunft raubte. Und alle Schrecken jener verhängnißvollen Nacht durchlebte er noch einmal; noch einmal empfand er die ganze Wärme, welche das frische, zutrauliche Kind in seiner Brust entzündete. Jedes einzelne Wort, welches er damals jubelnd zu ihr sprach, wiederholte er, und viele neue fügte er hinzu, gleichbedeutend mit Schwüren ewiger Liebe und Treue, bis sie endlich, wie von seinem heißen Athem versengt und vergiftet, dahin sank und in einen schwarzen Schatten zerfloß.

Doch aus dem Schatten tauchte sie wieder empor, um manches Jahr gealtert, gereift an Schönheit wie an Geist, und so kalt und streng, daß ihm vor ihr graute. Unheimlich war sie anzusehen, unheimlich wie ein Todtenbild, als sie vor ihm hinschwebte, in der einen Hand ein düster brennendes Lämpchen, die andere auf die Brust gelegt, wie er in fernen Landen an Madonnenbildern beobachtet hatte, in deren Herzen der Schwerter dreie steckten.

Er wollte sie anreden, sie fortweisen, allein seine Zunge war gelähmt; erstarrt waren seine Glieder. Sie aber sah auf ihn nieder, als hätte sie in ein offenes Grab geschaut, in welches ihr Liebstes oder sie selbst gebettet werden sollte. Thränen rannen über ihre Wangen; aus ihren großen Augen leuchtete es dann wieder wie Blitze, welche Sommers am fernen Abendhimmel zucken, jedoch nicht so bedrohlich, sondern mild wie das Nordlicht in langen Winternächten, bei dessen Schein er unzählige Mal seinen Schlitten über Eisflächen und festgefrorenen Schnee getrieben hatte.

Da neigte sie sich zu ihm nieder; ihre Lippen öffneten sich. Seine Brust schnürte sich zusammen – so angestrengt lauschte er.

„Ich hab’ auf Dich gewartet Jahr um Jahr,“ drang es wie ein Hauch zu seinen Ohren, „und nun, da Du gekommen bist, muß ich von Dir scheiden auf ewig.“

Sie küßte ihn; warm fühlte er ihre Lippen auf den seinigen. Er breitete die Arme nach ihr aus, ob sie nach sich zu ziehen oder sie von sich abzuwehren – er wußte es selbst nicht. Mit einer gewaltigen Anstrengung ermunterte er sich. Er schlug die Augen auf. Um ihn her war es dunkel. Nur auf dem Herd glimmten noch einige Kohlen geheimnißvoll. Einen Luftzug fühlte er über sich hinwehen, als wäre eine Thür geöffnet und wieder geschlossen worden, und ein eigenthümlicher Duft, wie wenn eine schwälende Lampe ausgelöscht worden, umschwebte ihn.

Befremdet spähte er um sich. Alles blieb still, wie in einem Grabe. Eine Weile starrte er in’s Dunkle, bevor er wieder einschlief. Der Bann aber schien gebrochen zu sein; für Träume war er nicht mehr zugänglich. –

Als Engelid ihn folgenden Morgens fragte, wie er geschlafen habe, und ihn dabei unbefangen ansah, als wäre ihr Gespräch mit ihm in der That nur ein Traum gewesen, da hätte er nicht um die Welt etwas von seinen nächtlichen Visionen verrathen.

„Besser und sanfter schlief ich, denn je zuvor in meinem Leben,“ antwortete er, „nur zu warm war’s mir auf den wollenen Decken. Ich hätte am liebsten auf dem nackten Fußboden gelegen.“

Da sah Engelid in eine andere Richtung, um zu verheimlichen, wie es um ihre Lippen zuckte, zu verheimlichen, daß sie seine Gedanken errieth. Mit freundlicher Ruhe meinte sie, daß er sich wohl gekräftigt genug fühlen möchte, die Reise nach dem Lyster-Fjord anzutreten.

Knut lachte geräuschvoll. Es sollte ein Ausbruch sorgloser Heiterkeit sein, und doch klang es so eigenthümlich herbe, sogar gehässig.

„Wer hörte je, daß ich der Kräftigung benöthigte?“ rief er aus, „je eher wir auf’s Wasser kommen, um so lieber ist’s mir. Seit der alte Olaf todt, hat dieses Schäreneiland keinen Zauber mehr für mich“ – er lachte wiederum, und dann sagte er in versöhnlicherem Tone zu dem vor dem Herde beschäftigten Mädchen:

„Du siehst, wie ich es in den langen Jahren verlernte, ordentlich schön zu thun.“

„Es wird Dir wieder geläufig werden in Deinem eigenen Hause,“ antwortete Engelid so gleichmüthig, daß es Knut schier verdroß, seine Absicht, sie zum Zorn zu bringen, von keinem Erfolg begleitet zu sehen. „Wird Dir aber das Haus zu enge, was hindert Dich, hinauszuziehen in die Welt und gänzlich zu vergessen, daß Du ein Norweger?“

„Dazu gehört nicht viel mehr als ein guter Wille,“ erwiderte Knut leidenschaftlich, lenkte indessen sogleich begütigend ein, „und Brod wird überall gebacken, wenn’s mir im Lyster-Fjord nicht schmecken sollte.“

Darauf gingen sie an die Arbeit, sich zur Fahrt zu rüsten, wobei Nielsen mit seinen Riesenarmen ihnen kräftig Beistand leistete. Als sie den Mast aufrichteten und das Segel der frischen Morgenbrise preisgaben, da rief Engelid dem alten Spieler scheidend zu:

„Bleibe ich eine Woche länger fort, so sorge nicht um mich! Hab’ Mancherlei zu thun da unten. Auch will ich mir die bekannten Berge wieder einmal betrachten. Ich meine, sie müßten über einander stürzen, weil ich sie so lange nicht besuchte.“

Nielsen neigte billigend das Haupt und ließ sich auf einem Felsblock nieder. Die beiden Robben gesellten sich zu ihm. Gleich ihm starrten sie auf das Kielwasser, welches sich hinter dem enteilenden Boote als glatter Streifen auf dem gekräuselten Wasserspiegel abzeichnete.

Die Sonne war bereits eine kurze Strecke über die östlichen, gletschergekrönten Gebirgszüge hinabgestiegen. Golden strahlte sie vom blauen Himmel nieder, wie um den beiden einsamen Reisenden ein gutes Zeichen zu gewähren. Diese saßen im Hintertheil des Bootes Seite an Seite. Sie sprachen zu einander wie zwei Menschen, die sich Einer in des Anderen Gesellschaft nicht behaglich fühlen und es doch verheimlichen möchten.




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_390.jpg&oldid=- (Version vom 14.3.2023)