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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

zu nehmen – ich mache Ihren Kutscher ja nur um dieses Schutzes willen, nur um mich zu flüchten und unaufgehalten davon zu kommen.“

Regine hatte das Leder der Halbchaise, in der sie fuhr, schon zurückgeworfen, um im nächsten Augenblick den Wagen verlassen zu können.

„Unter meinen Schutz? Was soll das heißen?“ fragte sie heftig.

„Das soll heißen, daß ich mich flüchten muß, weil ich meinen Vetter in einem Duell schwer verwundet habe – sehr schwer – um Ihretwillen, Cousine, habe ich mich geschlagen; nun muß ich fliehen, um nicht verhaftet zu werden, und kein besseres Mittel, unbeachtet davon zu kommen, gab es, als an des Kutschers Stelle mich auf den Bock zu schwingen.“

„Ich glaube Ihnen von dem Allem nichts, gar nichts –“

„Auch nicht, daß ich mich Ihretwegen geschlagen und mein Leben auf’s Spiel gesetzt habe?“

„Was geht es mich an, wenn Sie sich mit Ihrem Vetter raufen – Sie sollen jetzt halten, wenden und mich zurückbringen, oder –“

„Oder – was werden Sie thun, wenn ich Ihnen nicht gehorche?“

„Ich springe aus dem Wagen und suche mir selbst meinen Weg zurück!“

„Sie werden ihn nicht finden. Seien Sie vernünftig, Cousine!“ sagte Sergius, der die Pferde im Schritte immer weiter gehen ließ. „Ich habe mir die Gelegenheit verschafft, vernünftig und ruhig, ohne eine Störung wie am gestrigen Abende befürchten zu müssen, mit Ihnen zu reden. Sehen Sie nicht da vor uns am Ende dieses Weges ein kleines Gebäude? Ich kenne es. Wir fahren einem verlassenen Jagdpavillon zu, den ich und Damian zuweilen benutzt haben, wo es sich gut ruhen und in der weltabgeschiedenen Waldstille friedlich reden läßt –“

Einem Jagdpavillon zu! Diese Ankündigung fehlte nur noch, um Regine vollends zu erschrecken. Sie schwieg, überlegte; wenn dieser verwegene Mensch sie da einsperrte – ihre aufgeregte Phantasie malte sich alles Fürchterliche einer solchen Lage aus – wenn er nichts scheute, seine Absichten durchzusetzen – mit ihrer schwachen Kraft war sie verloren – es war hundertmal besser, sich so lange, als sie frei war, auf ihre Füße zu verlassen und auf und davon zu gehen.

Schnell band sie den Schleier fest um ihren Hut, zog ihren Ueberwurf um die Schultern, erhob sich und sprang aus dem Wagen.

Als sie im Sturze die Erde berührte, fiel sie in die Kniee, raffte sich wieder auf, machte einige rasche Schritte und empfand einen heftigen Schmerz am linken Knöchel; sie verbiß ihn und eilte rückwärts den Weg, den sie gekommen, davon.

Sergius stieß einen Fluch aus, hielt an, kletterte vom Bocke und schlang behende seine Zügel um eins der Wagenräder. Dann eilte er ihr nach.

„Regine – ich bitte Sie, Cousine, so hören Sie doch –“

Sollte sie stehen bleiben, um erst den Schmerz an ihrem Knöchel zu überwinden? Er wurde so furchtbar heftig. Aber nein, es war ihr ja, als höre sie ferne Schritte – ferne, durch das vorjährige Laub raschelnde Schritte – kam ein Mensch, irgend ein Mensch heran, so war sie ja gerettet – und da, eine Strecke vor ihr sprang ein Jagdhund von rechts her aus dem Gebüsche auf den Weg – vielleicht war es der Förster, der Vater Leonhard’s, den ihr der Himmel in ihrer Noth entgegensandte – sie stieß den lauten Ruf: „Hülfe, Hülfe, zur Hülfe!“ aus.

In diesem Augenblicke hatte Sergius sie eingeholt. Er umspannte ihren Oberarm, und heftig rief er:

„Begehen Sie doch keine Thorheiten, Regine! Bei Gott, ich dulde es nicht; ich sehe ja, daß Sie sich verletzt haben – Ihren Fuß – Sie sollen – kommen Sie sogleich zum Wagen zurück! Aber zum Teufel – wer kommt denn da?“ fügte er, vor Zorn erblassend und mit den Zähnen knirschend, hinzu.

Ein Hund stand schnuppernd vor der Gruppe, und um sich blickend sah Sergius die Gestalt eines kräftig gebauten Mannes von rechts her auf einem Seitenwege herankommen – er war nicht hundert Schritte mehr entfernt und stapfte zwischen den grauen Stämmen her hastig heran.

Der Förster Klingholt war es nun doch nicht – er, von dem sich Regine in ihrer Noth am liebsten hätte retten lassen – aber gleichviel! es war Benning, der Rentmeister, und auch er kam in diesem Augenblicke wie ein Himmelsbote.

„Kommen Sie mir zu Hülfe – hierher zu meiner Hülfe, Benning!“ rief ihm Regine außer sich entgegen; „dieser Mensch will mich gewaltsam an einen Ort bringen, wohin ich nicht will; stehen Sie mir bei, daß ich zurückkomme!“

„Das Fräulein ist völlig unvernünftig,“ rief dagegen Sergius dem Rentmeister zu; „sie begreift nicht, daß ich bei ihr den Kutscher machen und sie weiter fahren muß, um mich in Sicherheit zu bringen; die Polizei fahndet auf mich – wegen des Duells, wissen Sie –“

Benning stand jetzt vor ihnen – mit ziemlich verblüfftem Gesicht. Er nahm den Hut ab, wischte sich mit dem Taschentuche über die Stirn und ließ dabei seine umherfahrenden Blicke forschend vom Einen zum Andern irren.

„Helfen Sie mir, das Fräulein in den Wagen zu bringen!“ eiferte Sergius weiter, „sie hat sich den Fuß verstaucht; sie kann gar nicht gehen; ich werde sie ganz sicher führen –“

„Und ich,“ rief Regine, „ich befehle Ihnen, mir beizustehen, und mich von diesem Menschen zu befreien …“

Benning hatte offenbar Zeit gehabt, sich zu besinnen. Es zuckte etwas um seinen Mund wie ein boshaftes Lächeln – dann sagte er:

„Sie befehlen mir, Fräulein, und Herr von Sander befiehlt mir auch. Sie hören, wie er mir befiehlt. Nur leider nicht dasselbe, was Sie mir befehlen. Da können Sie mir nicht übel nehmen, daß ich mich frage, wem ich zu gehorchen habe.“

„Wie,“ fuhr Regine über diese Antwort auf’s Aeußerste empört ihn an, „Sie sehen eine Hülflose in Noth und Bedrängniß und können noch zaudern, können noch fragen –“

„Eh!“ unterbrach Benning sie achselzuckend, „ich bin kein fahrender Ritter, sondern ein abhängiger Diener meiner Herrschaft, welcher in Geschäften dieser Herrschaft bei einem Pächter revidiren geht. Ich muß dem gehorchen, Fräulein, der das Recht hat, mir zu befehlen! Das müssen Sie doch einsehen und können mir’s nicht verübeln. Wenn Sie fortreisen wollen, weil, wie Andreas mir erst vor einer Stunde gesagt hat, weil Sie mit Dortenbach nichts zu schaffen haben mögen –“

„Sie werden wissen, daß ich Ihre Herrschaft, Ihre künftige Herrschaft bin, daß Sie mir zu gehorchen haben, Benning,“ rief Sergius dazwischen.

Regine war immer empörter geworden über den Menschen, der ihr in ihrer Lage den Beistand versagen konnte; es war eine unglaubliche Schlechtigkeit. Dazu kam das Gefühl absoluter Hülflosigkeit, kamen die sich steigernden Schmerzen des Fußes – sie hätte laute Wehe- und Hülfeschreie ausstoßen mögen, wenn nur irgend eine Hoffnung dagewesen wäre, daß diese etwas anderes bewirkt hätten, als das Echo der Stämme in dem weiten todtenstillen Walde zu erwecken. Ihr blieb in der Welt nur Eines übrig, und in ihrer nicht zu beschreibenden Aufregung ergriff sie dieses Eine:

„Nun,“ sagte sie, „so hören Sie denn – hören Sie es – ich sehe ja, ich kann nicht anders, und bei Gott, so will ich denn auch nicht anders – hören Sie, daß Andreas Ihnen die Unwahrheit gesagt hat: ich will mein Erbrecht auf Dortenbach behaupten, behaupten gegen wen es sei auf Erden – nicht einen Halm von Dortenbach, nicht einen Buchstaben von meinem Rechte will ich aufgeben für Leute wie Herr von Sander! Und nun wehe Ihnen, wenn Sie nicht mir gehorchen –“

„Ah bah!“ schrie Sergius dazwischen, „Ihr Erbrecht ist eine thörichte Voraussetzung, da –“

Benning sah ihn mit seinem boshaften Lächeln und einer eigenthümlich verschmitzten Miene an.

„Das,“ unterbrach er ihn, „kann ich nun hier aber doch nicht untersuchen, Herr von Sander – das müssen auch Sie einsehen, und mir schon zu Gute halten, wenn ich zunächst doch das Fräulein als meine künftige Herrschaft betrachte und ihr gehorche. Sie ist unseres Herrn nächste Verwandte, und also – bitte, steigen Sie nur wieder ein, Fräulein, stützen Sie sich auf meinen Arm! Oder befehlen Sie, daß ich Sie trage?“

„Nein, nein!“ wehrte Regine ab – „aber Ihren Arm habe ich nöthig.“

Mit Widerstreben stützte sie sich auf den dargebotenen Arm des ihr verhaßt gewordenen Menschen. Er brachte sie zum Wagen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_386.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)