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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Er kann nicht viel älter sein als sechszehn Jahre; sein volles Haupthaar ist braun wie reife Kastanien; ob es auch recht lind ist, möchte die Sennerin wissen, aber er biegt ihre Hand weg, wenn sie ihn am Haupte anfühlen will. Sein etwas längliches Gesicht ist weiß und roth, echte Farben, die sich selbst in der Sonne nicht bräunen, von Bart noch gar nichts da; die Oberlippe spitzt sich noch in Knabentrotz, aber das Auge ist weich und sinnend; es schaut eine Welt von Schönheit heraus, und es schaut eine Welt von Schönheit hinein.

Niedrige Bundschuhe trug der Junge und nackte Waden und eine ziegenhäutene Kniehose und über der sich frei wölbenden Brust nichts, als das rauhe Linnenhemd und den ledernen Hosenträger. Das Ungefügige an dem ganzen Bürschlein war ein hoher, schoberförmiger Filzhut, ein sogenannter Sternstecher, wie die spitzen Tirolerhüte heißen, die nach landläufigem Sprüchwort so hoch sind, daß man damit vom Himmel die Sterne herabstechen kann. Dieser Sternstecher ragte wie ein finsterer Thurm über das heitere Antlitz des Franzel.

So ging er über die weichen Matten hin zwischen den Zerben, und es war ihm, als suche er etwas und wisse nicht, soll es ihm aus dem Erdboden herauswachsen oder vom Himmel herabfliegen. „Es war ein extriger, ein stader Bua,“ hat Einer von ihm erzählt.

Aus dem Thale der Drau, der Isel, aus dem weiten Boden von Lienz klangen in zartem Gesumme die Glocken des Feierabendes herauf. Zu solchen Stunden ist es ja, als wären vieltausend Saiten gezogen von Berg zu Berg, über das ganze Tirolerland, und als spielte auf dieser Cither ein unsichtbarer Künstler – so leis, so zart und getragen tönt es durch die Lüfte.

Die Glocken der Kirchthürme waren es, die zum Feierabendgottesdienste riefen. Es war ja wieder eine arbeitsschwere Woche vorbei, und die Leute hatten vollauf zu thun gehabt, das liebe Brod zu fassen und zu heimsen, das der Weltvater in goldenen Halmen aus der Erde reckte. Jetzt sollten sie danken gehen und sich ausruhen in der kühlen, dunklen Kirche und sich an Leib und Seele vorbereiten für den Sonntag. Das riefen die Glocken im Thale. Aber der Franzel stieg nicht hinab; ihm gefiel es auf dem Berge, und er schaute zu dem lichten Hochaltare des Großglockners hinüber, hinter welchem still und groß die Sonne niedersank.

„Mein Herz, das ist alleweil voll Freud!
Auf der Alm, da ist’s gut sein!“

Auf demselben Berge gab es heute auch Andere, die das Läuten der Kirchenglocken nicht achteten. Dieselben Anderen saßen in der Bergschenke der Niederung, die den schönen Namen „Auf der Wacht“ trägt. Im heiligen Jahre Neun sind dort die Tiroler auf der Wacht gestanden mit Messer und Stutzen, um ihr liebes Heimathland zu schützen vor den übermüthigen Franzosen. Die Jungen haben mit ihrer Brust die Engpässe des Landes vertheidigt; die Alten haben von den Höhen Felstrümmer niedergelassen auf den heranstürmenden Feind; die Weiber haben Kugeln gegossen aus dem Blei der Kirchenfenster; die Kinder haben mitten in der Schlacht die verschossenen Kugeln mit Messern aus dem Erdboden oder aus den Baumrinden gestochen; die Priester haben – in der einen Hand das Kreuz, in der anderen das Gewehr – den Befreiungskampf gepredigt.

Die größte Heldenthat, die das Jahrhundert kennt – das kleine Tirol hat sie vollbracht. Das Heimathsgefühl der Völker, der Freiheitsdrang einer Welt ist damals, und zwar im Bauernstande, zum gewaltigen, glorreichen Ausdruck gelangt – das Ideal unserer Zeit ist im Bauernthume eingeweiht worden.

Heute ist es friedsam auf den grünen Matten, genannt „Die Wacht“. Und auch an jenem Sonnabende war es friedsam dort und heiter dabei, obwohl ein anderer, ein unsichtbarer Feind bigott und heuchlerisch heranschwamm in den sonst so schönen Klängen der Festglocken. Es fanden sich in dem Berghause an schönen Sommertagen gern die Almer ein und die Burschen des Thales, die Scharfschützen, um beim rothen Tirolerwein, bei Mädchenaugengluth und Citherklang die Nächte zu „durchwachten“; denn nimmer veröden darf das Haus „Auf der Wacht“, und ein Feuer, sei es nun das der begeisterten Vaterlandsliebe oder der Mädchenminne oder auch des Hasses gegen einen persönlichen Feind, wird in jenem einsamen Berghause bewahrt, wie unten in der Pfarrkirche das „ewige Licht“.

Die Frömmigkeit des alten Moidle, das des Wirthes Schwester ist, hilft all nichts. Schon mehrmals war sie heute lauernd in der Gaststube umhergeschlichen und hatte ziemlich laut vor sich hingemurmelt:

„Zusammenläuten thun sie. Zum Segen thun sie läuten. Christenmensch! Unsereins mühselige Haut wollt’ gern in die Kirchen gehen, wenn die Füß’ thäten tragen. Und das junge Volk schaut sich neuzeit um den Herrgott gar nimmer um. Geh weg; jetzt seh’ ich’s schon, die Leut’ werden ganz kalt im Glauben. Eiskalt werden sie im Glauben, die Leut’; setzt seh’ ich’s schon.“

Man kümmerte sich nicht um das frömmelnde Gethue der Alten; man sang, man lachte; man scherzte mit den Mädchen, bis das Moidle dreinschrie:

„Jawohl, die Dirnen sind Euer Rosenkranzgebet heutzutag. Jawohl, ihnen den Kranz vom Kopf beten, das ist Euer liebster Gottesdienst. Jawohl!“

Die Bursche lachten, und einer rief:

„Sag’ noch so was, Moidle, daß wir wieder was zu lachen haben!“

„Werd’s nicht lachen, wenn die Straf’ Gottes kommt, weil Ihr keinen Glauben habt,“ versicherte die Alte.

„Weible,“ sagte einer der Burschen, „wegen unseres Glaubens brauchst Du Dir gar kein graues Haar wachsen zu lassen, das wachst Dir so auch schon. Einen Glauben haben wir noch, mußt wissen. Bin voreh gewiß nicht der Letzte in der Predigt und im Segen gewesen. Seitlang sie aber die Leut’ mit den Standarn (Gensd’armen) in die Kirche treiben lassen, seitlang mag ich gar nicht mehr hineingehen. Ich mag nicht mehr. Zum Beten laß ich mich nicht zwingen.“

Die Geschichte spielt in den „schwarzen Jahren“, zur Zeit des Concordats – der Oesterreicher weiß, was das heißt, und der Nichtösterreicher verlange es nicht zu wissen!

Damals war’s, daß man die Leute vom Marktplatz in die Kirche trieb und bisweilen sogar hinter ihnen die Thür zusperrte, und damals war’s auch, daß der Staat und die Kirche gemeinschaftlich im Volke die Religion umgebracht haben. ’s ist vorbei.

Der Wirth „Auf der Wacht“ war an den stämmigen Burschen herangetreten, der die obigen Worte gesprochen.

„Reden könnt’s, was Ihr wollt’s,“ sagte er leise, „aber nur nicht zu laut. Ich sehe Euch gern bei mir, Männerleut’ und Weiberleut’, aber soll ich’s aufrichtig sagen, heute wär’s mir lieber, wenn –“

„Wenn wir zum Loch hinausgingen,“ vervollständigte Einer die Rede des Wirthes.

„Auf das sag’ ich nicht nein,“ versetzte jener. „Es ist halt morgen der Rosenkranzsonntag, wo im Wirthshaus keine Zusammenkunft sein soll, und an solchen Feierabenden auch nicht; schau’ Dir die neue Polizei-Ordnung an, die ich erst heut’ an die Wand genagelt habe!“

„Die hängt ja umgekehrt!“ riefen die Burschen lachend. „Wirth, die hast Du bei den Füßen aufgehängt, wie ein geschlachtetes Schwein.“

„O du Höllensaggera,“ knurrte der Wirth; „so ist’s, wenn der Mensch nicht lesen kann; dann stellt er die Gesetze auf den Kopf. Das muß ich gleich anders machen; ich fürcht’ halt, die Spitzhauben kommen noch heut’ herauf.“

„Sie sollen nur kommen.“

„Aber schaut’s, meine lieben Leute,“ gab der Wirth zu bedenken, „wenn sie Euch da beisammen finden! Unsereiner wird halt so viel gestraft, wenn man Unterstand giebt.“

Im Tischwinkel hub sich eine alte braune Knochengestalt zu bewegen an.

„Was meinst, Wirth, was meinst?“ grollte er. „Von Unterstand sagst was? Sind wir Schwärzer, Wilddiebe, Strolche, daß von Unterstandgeben die Red’ ist? Wir sind Bauersleut’ und Holzleut’ und sitzen nach der Arbeit friedlich im Wirthshaus. Weißt, Wirth, daß im Wirthshaus der ehrliche Gast sein gutes Recht hat? Weißt es nicht, so schreibe ich Dir’s auf den Buckel, und gewiß nicht verkehrt, wie Deine Polizei-Ordnung.“

„Geh, geh!“ beschwichtigte ein Anderer, ein dicker, staubiger Kohlenbrenner aus dem Iselthale, „weißt es so gut, wie wir, daß der Wirth nicht anders kann. Willst Deinen Zorn auslassen über die neumodische Einrichtung, so mußt ganz wo anders anklopfen.“

„Anklopfen,“ rief der Knochige, „wie im Achtundvierzigerjahr zu Brixen beim Herrn Bischof, daß die Fenster haben gesungen!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_343.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2018)