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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

waren dazu namentlich der Splügen, der Septimer, der Simplon und der Lukmanier in Aussicht genommen worden, aber alle diese Pässe lagen nicht günstig genug, um auch in vollem Maße das internationale Interesse zu befriedigen. Für dieses kam es darauf an, einen Paß zu wählen, welcher namentlich die noch mangelnde directe Verbindung der westlichen Theile Deutschlands mit Italien ermöglichte, der also etwa in der Luftlinie zwischen dem Rheinthale und Mailand lag. Dazu konnte sich schlechterdings keine andere Linie als diejenige über den St. Gotthard eignen. Eine damals zusammenberufene italienische Sachverständigencommission hatte sich einhellig für den St. Gotthard entschieden, und dies wurde auch für Deutschland oder vielmehr für den Norddeutschen Bund, Baden und Württemberg (denn diese Verhandlungen stammen noch aus den Jahren vor 1871) entscheidend. Eine von diesen Staaten unter gleichzeitiger Betheiligung von Italien und der Schweiz im Juli 1869 zu Luzern abgehaltene Conferenz ging über alle anderen vorgelegten Projecte hinweg und wählte das Eisenbahnnetz, welches die Gotthardlinie zur Stammlinie hatte, setzte auch sogleich die Kosten für den Ausbau desselben auf 187 Millionen Franken fest, normirte die Subventionen und entwarf die Statuten für die zu gründende Gotthardbahngesellschaft. Um die Integrität der Schweiz zu wahren, hielt man es nämlich für ausgeschlossen, eine internationale Bauverwaltung einzusetzen, sondern beschloß, die Subventionen der betheiligten Staaten, die insgesammt auf 85 Millionen Franken bemessen wurden, einer Actiengesellschaft zu überlassen, welche unter die Aufsicht des schweizerischen Bundesrathes gestellt würde.

Diese Stammlinie des Gotthardbahnnetzes ist 175 Kilometer lang; sie beginnt in Immensee am Zugersee, geht von hier aus am Fuße des Rigi entlang nach Goldau, alsdann über Seewen am Lowerzersee nach Brunnen, weiter dicht am Ufer des Vierwaldstättersees entlang nach Flüelen, wo sie in das Thal der Reuß einmündet, verfolgt dieses nunmehr beharrlich bis Göschenen und durchbohrt hier den St. Gotthard, um im Süden desselben, bei Airolo, im Thale des Tessin zu münden, welches sie bis Bellinzona nicht verläßt. Hier schließen sich an die Stammlinie zwei Linien an: die Monte-Cenere-Linie, welche, den transalpinen Canton Tessin in dessen größter Längenausdehnung durchschneidend, über Lugano nach der Grenzstation Chiasso geht und sich hier mit der von Como nach Mailand führenden Bahn vereinigt, und ferner die Linie über Magadino nach den italienischen Grenzbahnen hin, welche Anschluß mit Genua haben. Im Norden mündet bei Immensee eine Zweiglinie, die von Luzern, bei Goldau eine solche, die von Zug kommt.

Dies sind die Eisenbahnlinien, welche man unter dem Namen „Gotthardbahnnetz“ zusammenzufassen pflegt. Die eigentliche internationale Linie ist die Strecke Luzern-Mailand, durch welche die großen Industriegebiete des nordwestlichen Deutschlands auf dem kürzesten Wege mit der Po-Ebene verbunden werden. In dieser Strecke liegt auch der große Tunnel. Zieht man eine gerade Linie zwischen Luzern und Mailand, so geht dieselbe genau über den St. Gotthard; von dieser Luftlinie weicht die Eisenbahnstrecke allerdings bedeutend ab; denn während erstere hundertneunzig Kilometer lang ist, beträgt die Länge der letzteren zweihundertsiebenzig Kilometer.

Von großem Einfluß auf die Wahl des St. Gotthard war neben der geographischen Lage zu den betheiligten Ländern auch die natürliche Beschaffenheit des Alpenpasses; von allen Pässen ist er der einfachste und großartigste natürlichste Durchschnitt der Alpen, gleichsam eine von Brunnen aus ununterbrochene, tiefe Furche, die eine große Anzahl von Längsketten kräftig durchschneidet, sich fast in gerader Linie vorwärts zieht und das Alpengebirge in zwei unverbundene Hälften theilt. Strahlenförmig gehen von ihm mächtige Thäler aus, die dicht bis an seinen Stock herantreten.

Wie bereits erwähnt, sind es die Thäler der Reuß und des Tessin, welchen die Bahnlinie folgt. Dieselbe wechselt nur in der Wahl des Ufers; bald befindet sie sich rechts, bald links vom Flusse, hier über ihm, dort unter ihm; bald tritt sie in die Thalränder ein und klimmt in kunstvollen Aufwickelungen hinan, sodaß an manchen Stellen die einzelnen Bahnstrecken in drei verschiedenen Höhen über einander liegen.

Drei Stellen sind es namentlich, welche in dieser Beziehung das höchste Interesse jedes Reisenden erregen müssen; sie liegen bei Wasen, einer Ortschaft nördlich des Tunnels, sowie bei Prato und Giornico südlich desselben. An diesen drei Punkten ist das Gefälle der Thäler ein allzu starkes, als daß ihm die Bahnlinie mit dem ihrigen auf bisher gebräuchliche Arten folgen könnte. Sonst suchte der Erbauer von Gebirgsbahnen sich in ähnlichem Terrain dadurch zu helfen, daß er die Linie ein Seitenthal einschlagen, hier allmählich in die Höhe steigen und erst alsdann wieder in das Hauptthal zurückkehren ließ. Aber derartige Seitenthäler sind hier nicht vorhanden; senkrecht steht hier der Fels an den Flußufern und die hier einmündenden Bäche stürzen als Wasserfälle in die Thäler der Reuß und des Tessin hinab. Da kam man auf den genialen Ausweg, in diese Wände selbst hineinzudringen und mittelst kreisrund angelegter Tunnels sich in die Höhe zu winden. Somit tritt die Bahnlinie fast an demselben Punkte des Thales wieder aus dem Bergesinnern heraus, wo sie hineingetreten ist, nur hoch über der alten Höhenlage. Drei solche „Kehrtunnel“, wie derartige Anlagen genannt werden, vermitteln den Aufstieg in der Thalstufe der Reuß bei Wasen; am Pfaffensprung, kurz nach Verlassen des hier liegenden Bahnhofes, bohrt sich die Linie mittelst eines Tunnels rechts in die Thalwand ein, beschreibt einen Kreis, indem sie zugleich stark ansteigt, und tritt über dem Mundloche des Tunnels wieder an’s Licht. Jetzt verfolgt sie eine kurze Strecke das linke Ufer des Flusses, überschreitet denselben im Dorfe Wasen selbst und bohrt sich wieder in die Felswände des rechten Ufers ein, einen zweiten Kehrtunnel passirend. Am Austritte liegt der Bahnhof Wasen, eine kurze horizontale Strecke, ein Ruhepunkt für neues Steigen! Denn nachdem die Linie mittelst einer Brücke wiederum das linke Ufer des Flusses gewonnen, läuft sie hier immer der jenseitigen Strecke parallel in dem Thale weit zurück, hierbei fortwährend stark ansteigend, und tritt endlich in einen dritten Kehrtunnel ein.

Nachdem sie diesen verlassen, verfolgt sie noch einmal die schon zweimal eingeschlagene Thalrichtung, sodaß hier, wenige hundert Meter von einander entfernt, drei scheinbar von einander unabhängige Bahnstrecken neben einander herlaufen. Auf diese Weise gelang es jedoch den Erbauern der Bahn, auf einer Strecke von nur etwa drei Kilometer hundertzwanzig Meter zu steigen, wozu sie sonst bei dem durchschnittlichen Gefälle der Hochgebirgstheile der Gotthardbahn von 1:40 eine Thalentwickelung von nahezu der doppelten Länge gebraucht haben würden.

Aehnlich liegt die Sache bei den beiden Kehrtunnelanlagen südlich des Gotthard. Auch der Tessin zeigt als Unterbrechungen seines im Allgemeinen gleichmäßigen Gefälles zwei Thalstufen, das heißt Stellen, wo das Gefälle ein außerordentlich großes ist und der Fluß sich in eine Folge von Wasserfällen auflöst. Auch diese Thalstufen, welche, wie bereits erwähnt, bei Prato und Giornico liegen, sind mit Hülfe von Kehrtunnels durch die hier in starkem Gefälle abwärts eilende Bahnstrecke überwunden worden; hier sind jedoch in beiden Fällen nur je zwei Kehrtunnels vorhanden, und zwar liegen dieselben bei Prato verhältnißmäßig weit von einander ab, bei Giornico dagegen folgen sie einander auf dem Fuße, sodaß man vier Tunnelmundlöcher auf einem und demselben, nämlich dem linken, Ufer des Tessin über und dicht neben einander erblicken kann, wenn man den Weg auf der alten Poststraße nimmt.

Fast möchte man überhaupt allen Reisenden, welche die Gotthardbahn als Sehenswürdigkeit in Augenschein nehmen wollen, rathen, dieselbe nicht zu benutzen, sondern die alte Poststraße einzuschlagen. Im Allgemeinen verfolgen beide denselben Weg; stets hat man von dem Wagen aus die Bahnstrecke neben sich, manchmal in schwindelnder Höhe über sich, manchmal wieder in kaum erreichbarer Tiefe unter sich. Nicht von dem Eisenbahnwagen, sondern erst von der Landstraße aus tritt dem Reisenden in unzerstücktem Bilde die ganze Kühnheit der Erbauer vor Augen. Anscheinend dünne und zerbrechliche Pfeiler steht man aus schäumendem Gebirgswasser sich erheben; zierliches Eisenwerk überspannt weite Thalöffnungen; wie Spielzeug erscheint dies Alles in dieser Welt des Riesenhaften, aber unbeirrt sieht man zugleich die Strecke ihren Weg immer höher und höher hinauf verfolgen, dort eine Schlucht überspringend, hier einem trotzig vorspringenden Felsen sich biegsam um den Nacken schmiegend, plötzlich in dunkler Bergestiefe verschwindend, oder irgendwo anders, darüber oder darunter, siegreich wieder heraustretend. Gewiß, so reizvoll das Bild jener beiden Thäler bisher war – durch die Gotthardbahn ist es nur noch reizvoller geworden.

Unsere diesen Artikel begleitenden Abbildungen, welche die Uebersetzung des Rohrbachs bei Wattingen (unweit der erwähnten Kehrtunnelentwickelung bei Station Wasen), die Eisenbahnbrücke über

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_326.jpg&oldid=- (Version vom 24.2.2023)