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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


ganz wirr gewordenen Kopf und suchte in hülfloser Bestürzung seine nahe gelegene Kammer auf.

„So mußte es kommen,“ sagte sich unterdeß Regine in ihrem Wohnzimmer wieder allein. „Diese thörichten Menschen! Spielen vielleicht auch sie eine Rolle im Plane der Intrigue? Soll, da ich die Adoption so schnöde von der Hand gewiesen, jetzt anders auf mich gewirkt werden? Will man meinen Willen, meinen Oppositionsgeist, meine Widerstandskraft aufstacheln, damit ich mich dagegen empöre, dem Zwange zu gewähren, was ich bisher frei gewollt? Mich widersetze, wo man mit Gewalt droht? Es wäre möglich – wenn es nur nicht so thöricht wäre!“

Regine war außer sich. Wie auf dem Kriegsfuße mit aller Welt fühlte sie sich. Es hatte fast etwas Erleichterndes für sie; der furchtbare Druck, der auf ihr gelastet, der tiefe Seelenschmerz bekam einen Zusatz so zorniger Empörung, daß ein gut Theil davon unterging in der unbeugsamsten Entschlossenheit.

Sie wollte gehen – fort von Dortenbach, das sie nie hätte betreten dürfen – die Menschen, unter welche sie hier gerathen, zeigten ihr ja, wie Recht sie gehabt, es nie betreten zu wollen; sie wollte fort, sobald sie vermochte – am morgigen Tage.

Und Leonhard? Leonhard wollte sie nie in ihrem Leben wiedersehen.




12.

Regine hatte die Nacht schlaflos zugebracht. Erst gegen Morgen war sie in einen unruhigen Schlummer verfallen, der, als die Sonne emporgestiegen, tiefer und fester geworden, sodaß sie erst sehr spät erwachte. Sie blickte durch’s Fenster in einen grau verhangenen Nebeltag – der Wind, der die nahen Tannen leise bog, schien zu ohnmächtig, die trübe Blässe von den Wangen der Natur zu scheuchen – er konnte wie guter Wille, der helfen möchte wider allgemeine Trübsal, nichts, als einzelnes nur noch mehr plagen.

Regine war mit ihren ersten erwachenden Gedanken sich ihres Entschlusses bewußt. Als sie sich angekleidet hatte, begann sie sofort ihre Vorbereitungen zur Abreise. Dabei wuchs ihre Erregung so, daß sie von Zeit zu Zeit sich setzen mußte, um dem Andrang ihrer Gedanken nachzugeben, den Sturm sich beschwichtigen zu lassen, der in ihrem Innern tobte. Sie setzte sich dann an’s Fenster und starrte hinaus, starrte – sie wußte nicht auf was, noch wie lange. So entfloh die Zeit. Sie vernahm ein lautes Pochen an der Thür des vorderen Raumes, ihres Wohnzimmers. Sie ging, zu öffnen.

Es war Andreas, der besorgt eintrat.

„Fräulein Bertram, ich war besorgt um Sie,“ sagte er. „Sie erscheinen gar nicht, obwohl der Morgen vorgerückt ist. … Ich habe Ihr Frühstück längst auf den Tisch im Saale gestellt. Aber Sie haben gewiß nicht gehört, daß ich dabei anpochte. Jetzt, wo ich es wegräumen will, seh’ ich, daß es ganz kalt geworden. Soll ich frisches bestellen?“

„Lassen Sie das, Andreas! Auch das kalte genügt mir. Und – ich will, wenn ich etwas zu mir genommen, abreisen, Andreas –“

„Sie wollen abreisen – wollen wirklich gehen – für immer?! Unmöglich!“

„Ich will fort – noch am Vormittage, Andreas. Ich habe gepackt und bin entschlossen. Sie werden mir einen Wagen besorgen – sobald wie möglich! Einen Wagen bis zur nächsten Station der Eisenbahn.“

Andreas schlug die Hände zusammen.

„Das jagt mir einen Schrecken in die Glieder – ich kann es Ihnen gar nicht sagen: wie! Meinem alten Herrn melde ich das nicht. Das thu ich ihm nicht an. Dazu bringen mich nicht vier Pferde. Denn das müssen Sie wissen – die Alteration, die er davon haben wird –“

„Ich verlange nicht, daß Sie es ihm sagen, Andreas,“ unterbrach ihn Regine. „Ich werde ihm selber sagen, weshalb ich gehe. Besorgen Sie mir eiligst den Wagen! Sobald wie möglich!“

Andreas sah sie noch einen Augenblick mit einem Ausdruck rührenden Flehens an; dann schlich er gedrückt und in seinen Bart murmelnd davon.

„Treue, alte Seele!“ flüsterte Regine vor sich hin, „der beste Mensch in diesem Hause ist der niedrigste, der Lakai.“

Sie trat in den Saal und setzte sich, um ein wenig Nahrung zu sich zu nehmen, aber kaum hatte sie damit geendet, als behutsam die Flügelthür vom Corridor her geöffnet wurde.

Es war Dora’s Kopf, der ein wenig ängstlich, ein wenig bleich hereinschaute und dem mit schüchterner Langsamkeit Dora’s schlanke kleine Gestalt folgte.

„Fräulein Regine – Fräulein Cousine …“ sagte sie furchtsam aufathmend, „darf ich? Ich möchte Ihnen so gern, so sehr gern einige Worte sagen.“

„Sie, Fräulein Dora … mir?“

„Ja, sehen Sie, Fräulein Regine; es hängt so viel, so grausam viel von … von meinem ganzen Lebensglück davon ab …“

„Daß Sie mir einige Worte sagen? So kommen Sie mit mir in mein Zimmer!“

Sie ging vorauf; Dora folgte ihr.


(Fortsetzung folgt.)




Die Gotthardbahn.

In wenigen Tagen wird die Gotthardbahn, jenes Riesenunternehmen, an welchem nahezu ein volles Jahrzehnt gearbeitet worden, dem Verkehr übergeben werden. Im Norden wie im Süden der Alpen ist schon Alles gerüstet, um den bisher durch natürliche Schranken gehemmten directen Verkehr sofort in diese Bahnlinie einzulenken, welche wie kaum irgend eine andere die Bezeichnung einer internationalen verdient. Ostfrankreich und Westdeutschland, Luxemburg, Belgien, Holland und auch England warten nur auf den Augenblick, wo die ersten Güterzüge von Luzern aus unter dem Schnee der Alpen hinweg nach der sonnigen Po-Ebene dampfen werden, um ihre Handelsartikel, ihre Kohlen, ihr Eisen, ihre Industrieproducte zu versenden; denn durch den St. Gotthard hindurch führt die directeste Straße nach Italien, dem Mittelmeer und der Levante. In das viele Hunderttausende von Meilen umfassende Schienennetz der Erde ist somit ein neues wichtiges Glied eingefügt, dessen Mangel bisher schwer genug empfunden worden; was aus der Thatkraft der Unternehmer, dem Schweiße und Blute der Arbeiter in jahrzehntelanger mühsamer Arbeit geschaffen, wird zum Gewinn für ganz Europa.

Vor etwa zehn Jahren war es, als das Unternehmen in Angriff genommen wurde. Langwierige Verhandlungen unter den dabei interessirten Staaten waren vorhergegangen; bereits 1841 war in der Schweiz der Gedanke an eine Ueberschienung der Alpen aufgetaucht, aber Sonderinteressen ließen die Cantone zu einem einmüthigen Vorgehen nicht kommen, und so mußten sie es mit ansehen, wie die Eisenbahn über den Brennerpaß ausgebaut und später auch eine solche über den Mont Cenis in Angriff genommen wurde. Dadurch wurden die ihrer Mehrzahl nach nördlich der Alpen liegenden schweizerischen Cantone immer mehr und mehr geschädigt; denn wenn auch hier eine große Zahl fahrbarer und gut unterhaltener Straßen über die Alpenkämme führten, so wurde der internationale Verkehr doch immer mehr und mehr nach rechts und links hin abgelenkt.

Die Transporte durchgehender Güter hatten bereits mit dem Jahre 1867, wo die Brennerbahn fertig geworden war, erheblich abgenommen und mußten noch weiter zurückgehen, sobald die Mont-Cenisbahn dem Verkehr übergeben war, was mit dem Jahre 1872 zu erwarten stand. Aber auch über noch weiter abgelegene Bahnen fand der durchgehende Verkehr bereits seinen Weg; die alten Alpenstraßen wurden verlassen, und einzelne Cantone, welche bisher mitten inne im Verkehr gelegen, lagen nun abseits und verloren von Jahr zu Jahr an Bedeutung.

Unter dem Drucke dieser Verhältnisse machte sich deshalb in der Schweiz eine Stimmung fühlbar, welche jede Alpenüberschienung willkommen hieß, wenn nur deren Ausführung in nahe Aussicht gestellt werden konnte. Unzählige Projecte waren inzwischen im Laufe der Jahrzehnte für die Ueberschreitung der Alpen mittelst eines Schienenwegs ausgearbeitet worden. Außer dem Gotthardpaß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_324.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)