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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

ausstoßend, mit dem Gesichte auf den Divan, der hier in einer Fensternische stand.

Da berührte eine weiche Hand sein Haupt; er erhob es und blickte in die guten grauen Augen seiner Großmutter, die, sich niederbeugend, ihn liebevoll ansah.

Die alte Frau hatte ihn davonstürmen sehen, nachdem Ibrahim und Nefiseh den Kahn bestiegen. In banger Sorge um ihren Liebling, für den sie bei dem apathischen Wesen ihrer Tochter seit Jahren die mütterliche Pflege übernommen hatte und dessen schmerzliche Empfindungen sie errieth und mitfühlte, waren der Greisin die letzten Stunden verstrichen, und als ihr der Hufschlag des Pferdes endlich die Rückkehr des ängstlich Erwarteten verkündet hatte, da war sie in den Gang hinaus getreten, der die Gemächer des Harems von dem Gartensaale trennte, und hatte von dem alten Diener erfahren, daß Abd-er-Raschid seinen Vater zu sprechen begehre. Das von zärtlichster Liebe für den Enkel erfüllte ahnungsvolle Herz hatte ihr gesagt, daß eine schwere, folgenreiche Stunde geschlagen habe. Koranverse murmelnd, hatte sie an der Thür des Saales gestanden, in welchem sich Vater und Sohn befanden, und war Abd-er-Raschid gefolgt, als dieser in höchster Aufregung den Corridor hinabstürzte.

Und kaum waren nun seine Augen denen der Großmutter begegnet, als der feindselige Ausdruck aus denselben wich.

„O, laß mich allein, laß mich sterben!“ bat er weich.

Mit sanfter Stimme suchte die gute Alte den Verzweifelnden zu beschwichtigen; sie ergriff zärtlich seine Hand, hielt ihn innig in ihrem zitternden Arm und zog ihn mit sich fort in ihr Gemach.

Hier ließ sie sich auf eine Ottomane nieder und bat den Jüngling, ihr Alles zu erzählen. Stürmisch vor der Lauschenden auf- und abgehend, schüttete er ihr sein ganzes Herz aus, dann aber sank er erschöpft auf die Ottomane und barg sein glühendes Gesicht in den Schooß der Guten, die ihn schon so oft getröstet und beruhigt.

„Fasse Muth, mein Kind!“ sagte die Greisin mild und küßte sein Lockenhaupt. „Sei ruhig, mein Sohn!“ Und nun begann sie die erste Sure des Korans zu beten.

„Nur das nicht!“ rief er heftig. „Diese erste Sure hoffte ich in gesegneter Stunde zu beten, mit ihr zu beten, Großmutter, ehe ich den Schleier von ihrem Antlitz hob. Diese Sure will ich nimmer hören, will sie nimmer beten. Alle sind sie falsch, die Deines Geschlechtes sind – nur Du nicht, Alle, auch Nefiseh.“

„Auch Nefiseh?“ fragte verwundert die Greisin.

„Ja, so ist’s! Sie ist lieblich anzuschauen, doch innen voll Giftes, wie die verführerischen Beeren des Gundschastrauches.“

„O Abd-er-Raschid, die Eifersucht verblendet Dich. Ich habe es tausendmal in ihren Augen gelesen, daß sie Dich liebt, und sie hat es mir tausendmal gesagt.“

„Hat sie das, hat sie das wirklich?“ rief er mit Feuer. „Und tausendmal?“

„Tausend- und einmal,“ lächelte die Alte, während ihre Augen vor Rührung über die Wandlung, die mit dem Enkel vorgegangen, sich feuchteten. „Mein Sohn, Eines thut noth vor Allem: Du mußt dem Zorn des Vaters aus dem Wege gehen; Du mußt dieses Haus verlassen – schon morgen mit dem Frühesten.“

Er zuckte zusammen und entzog ihr seine Hand. Sie aber ergriff dieselbe von Neuem.

„Es ist besser so,“ fuhr sie fort, „und Du magst es getrost thun. Du brauchst nichts zu fürchten. Bedenke, daß Nefiseh Deinem Vater unerreichbar ist – ewig unerreichbar. Er ist nicht der Mann, wider das Gesetz zu handeln. Und wäre er solch ein Mann, so ist Nefiseh dessen nicht fähig – auch dann nicht – wenn sie Deinen Vater liebte.“

„Er wird die Schüchterne, Zaghafte bereden –“

„Still, mein Sohn, sprich diesen Gedanken nicht aus! Du schmähest damit Deinen Vater, Deine Braut, Dich selbst. Sündhaft der Sohn, welcher von seinem Vater Uebles denkt!“

„Wenn dieser Vater nun aber nicht väterlich an seinem Sohne handelt?“

„Ein Muslime handelt stets väterlich an seinem Kinde,“ erklärte feierlich die Greisin. „Das wird auch Dein Vater thun.“

„Allah möge es geben!“ seufzte Abd-er-Raschid. „Du bist klug, und ich will Dir gehorchen. Wohlan, ich werde das väterliche Dach meiden.“

So ward denn beschlossen, daß Abd-er-Raschid unverzüglich das Haus verlasse und zwar verstohlener Weise, um in einer bei Tantah gelegenen Villa der Großmutter einige Wochen zu verbringen. Niemand sollte ahnen, wohin er sich gewandt habe, und nur den Haremsmitgliedern, vor Allem der Mutter und Nefiseh, wollte die Greisin zur Beruhigung anvertrauen, daß Abd-er-Raschid nicht lange verschollen bleiben werde.

Der Kriegsrath, den die Beiden gehalten, hatte lange gewährt, und als Abd-er-Raschid von der Greisin Abschied nahm, sein Kleinod, Nefiseh, unter den mächtigen Schutz des mohammedanischen Familienhauptes stellend, da graute schon der Morgen.

Um diese Zeit, wo der Muezzin auf dem Moscheethürmlein den Muslimen an seine Pflicht mahnt, ein Morgengebet zu verrichten, pflegte Ibrahim Bey sonst Koranverse zu murmeln, heute aber lag er noch in tiefem Schlaf, den er während der Nacht lange vergebens herbeigewünscht hatte. Eine quälende Unruhe hatte ihn nach der Unterredung mit seinem Sohne erfaßt. In dieser Stimmung wagte er zum ersten Mal, sich zu fragen, was er denn hoffe und wünsche. Bis zu dieser Stunde hatte er sich zu bezwingen, hatte er der Geliebten gegenüber zu schweigen gewußt, weil er noch nicht ergründet, ob seine Liebe in Nefiseh’s Herzen Erwiderung finde. Wenn dies der Fall – und daß es so war, davon war der etwas eitle Mann überzeugt, der als herrische Natur immer vermeinte, es könne nur das geschehen, was er wünsche – ja, wenn es der Fall war – – Er malte sich die Lage aus, in die ein Einverständniß zwischen ihm und Nefiseh ihn, die Geliebte, seinen Sohn, sein Haus versetzen müsse. O, er kannte sich wohl: Er würde seiner Leidenschaft nicht Herr sein. Die Folgen wären unberechenbar. Nur das Eine war klar: das Haus Ibrahim’s würde ein Haus des Kampfes und der Zwietracht werden.

Und nun trat das Bild seines Sohnes ihm lebhaft vor die Seele, das Bild dieses schönen, kraftvollen und edlen Jünglings. Ibrahim Bey war ein ehrsüchtiger Mann, der für das Lob der Welt nicht taub war. Etwas wie Stolz beschlich ihn bei dem Gedanken, daß er, während alle Welt den jungen Abd-er-Raschid bewunderte, an seine Brust schlagen und rufen dürfe: er ist mein, mein eigener Sohn. Und Ibrahim Bey war auch ein weichherziger Mann – trotz seiner kalten, schroffen Außenseite; er hatte seinen Sohn von Herzen lieb. Hatte er ihn nicht mit liebender Vatersorge erzogen, hatte er von ihm nicht Liebe für Liebe, Dank für all seine Sorge geerntet? – gewiß, o, gewiß!

Und nun? Nun sollte er diesen braven Sohn, seinen Stolz und seine Liebe, um die Geliebte seines jugendlich heißen Herzens bringen und an die Stelle der Kindesliebe Haß pflanzen, Haß gegen sich, gegen Ibrahim Bey, den die Welt einen schlechten Vater nennen werde? Die Welt – –! Das durfte die Welt nicht sagen. Einen schlechten Vater? O, er liebte seinen Sohn doch so innig! Aber wenn er ihn liebte, mußte er dann nicht sein eigenes Herz bezwingen? Seine Liebe zu Nefiseh war sündig – das fühlte er – doppelt sündig: das Vaterherz und der Koran verboten sie. Und dann: war er nicht nahezu ein alter Mann? Nefiseh so jung – Jugend gehört zu Jugend.

Diese und ähnliche Gedanken verscheuchten von Ibrahim’s Lidern den Schlaf – das Gewissen war zu Wort gekommen – und erst nachdem er mehrere Haschischcigaretten geraucht, fiel er in einen sanften Schlummer.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er erwachte. Er schlug mit der rechten in die linke Hand, und auf dieses Zeichen, mit welchem man im Orient, wo in keinem Hause Glocken vorhanden sind, die dienenden Geister herbeiruft, erschien der Kammerdiener des Beys.

Die Morgentoilette dauerte lange. Ibrahim hatte heute in seinem Schnurrbart ein weißes Haar entdeckt; auch in dem Kopfhaar glitzerte es an manchen Stellen ganz verdächtig. Bei dieser Wahrnehmung fielen dem Bey unwillkürlich das rabenschwarze Bart- und Haupthaar seines bildschönen Sohnes ein, und die ganze lange Gedankenreihe von Vaterliebe und Entsagung, die ihm gestern Abend den Schlaf geraubt, wurde wieder in ihm wach. Aber die leichtsinnige Natur des Lebemannes gewann doch in ihm die Oberhand. Wir Menschen verleugnen niemals auf die Dauer unser eigenstes Naturell.

„Bah!“ sagte er zu sich selbst, „was kümmern mich die Liebesangelegenheiten meines Sohnes? Mein Herz hat auch sein Recht.“

Und nun kleidete er sich mit doppelter Sorgfalt an. Wenn der Tarbusch sein Haupt bedeckte – ohne denselben läßt sich ein

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