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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


Mensch mit einem so sanften Gesicht und blauen Augen, ganz so klar blau, wie Sie sie haben, Fräulein Regine – sie ist ihm in die Welt gefolgt, und da sind sie auch ganz glücklich geworden; er hat sich in P. niedergelassen, und ist bald ein viel gesuchter Arzt geworden, wie man uns erzählt hat, und Medicinalrath und Chef des städtischen Krankenhauses noch dazu; er ist dann vor fünf oder sechs Jahren, denk’ ich, noch im besten Alter gestorben – ein Jahr nach seiner Frau, dem Fräulein Sabine; eine Tochter nur ist übrig geblieben, die jetzt noch, wie ich gehört, in P. bei einer Verwandten ihres Vaters lebt – eine wunderliche, verschrobene Person, wie es scheint –“

„Weshalb nennen Sie sie so?“ fiel ihr Regine in’s Wort.

„Nun, sehen Sie, dieses Fräulein ist doch die nächste Erbin zu Dortenbach; wenn auch ihre Mutter auf ihre Erbrechte hat verzichten müssen, ist sie doch die Nächste aus dem Blut, aber sie hat immer erklärt, sie wolle nie und nimmer etwas von Dortenbach hören noch sehen, und das ist doch der reine Unverstand! Ein Unverstand, der uns Alle hier tief unglücklich macht; denn wenn sie käme und die ganze reiche Erbschaft – solch ein Erbe! – an sich nähme, so bliebe Alles, wie es ist – und wir wären gerettet.“

„Woher wissen Sie das alles?“ fragte Regine.

„Woher? Ich weiß das alles durch Leonhard –“

„Der dieses ‚verschrobene‘ Fräulein kennt?“

„Der sie kennt. Er hat, denk’ ich, gesucht, in der Stadt ihre Bekanntschaft zu machen, sich ihr zu nähern, auch wohl einen Einfluß auf sie zu gewinnen, der ehrliche Mensch – – aber wie Sie mich bleich und geisterhaft ansehen, Fräulein Regine! Die rasche Bewegung in der Hitze draußen hat Ihnen nicht wohl gethan –“

„Und der rasche Wechsel mit der kühlen Luft hier im Zimmer; in der That,“ sagte Regine, sich fassend, „ich will gehen, draußen wird mir wohler werden. Adieu! Adieu!“

Sie hatte sich schon gewendet und ging; als die Försterin, die sich erhoben hatte, um sie zu geleiten, erst den Vorplatz erreicht hatte, war sie schon auf und davon.


(Fortsetzung folgt.)


Scylla.
Eine Studie von der süditalienischen Meeresküste von Woldemar Kaden.

„Rechts wohnt Scylla und links die unversöhnte Charybdis.“
Virgil.

Zwei Meere, das tyrrhenische und das ionische, umgürten das schroffe, trotzigwilde calabrische Gebirgsland; Hunderte von rauhen Thälern, Schluchten und Schlünden, welche Wasser und Erdbeben in das Gestein hineinwuschen und sprengten, durchsetzen es, und wie kühne Küstenhochwachten treten zahlreiche felsige Vorgebirge, von den Schiffern gefürchtet, in die brandenden Wogen hinein. Die Küsten sind nur schmal; die Flüsse haben keine Zeit, zur Ruhe zu kommen, und heftigen Laufes stürzen im Winter und Lenze die Wasser des Crati, Amato, Corace, Nieto, Lao und Metramo durch felsblockerfüllte, im Sommer trockene Rinnsale herab, um im nahen Meere ihren ungestümen Lauf zu enden.

An diesen Küsten blühte in der mächtigen schönen und viel umworbenen Magna Graecia (Insel Sicilien und südliches Italien) eine herrliche Cultur, begünstigt von einem freundlichen Himmel und einem dem Verkehr der Völker dienenden Meere. Dieser Himmel lacht ermunternd noch immer über dem Lande; noch bietet das Meer seinen Rücken; noch wie einst, da sie dem Apoll und der Venus geweiht waren, grünt und blüht hier Lorbeer und Myrthe an sonnigen Hängen, und Wein und Oel, im Verein mit vielen andern Gaben einer „reichhinstreuenden“ Natur, vermöchten, wie einst, dem Lande zu Reichthum, zu Blüthe und Freude zu verhelfen, und doch liegt sein Kranz verwelkt im Staube, und doch weint die Armuth in den Thälern und auf den Bergen oder zieht, verzweiflungsvoll entschlossen, auf den schweigenden Meerschiffen hinüber nach dem gepriesenen andern Welttheile.

Die hochherrlichen Städte, in deren Marmortempeln die Götter wohnten, um deren Gunst in jenen Tagen ein Alexander, ein Hannibal sich bewarben, die von einem Pindar und Demosthenes gepriesen wurden – sie sind dahin. Dahin auch wie ein Traum ist jene Zeit, und was sie schuf, wurde zerstäubt und verweht vom Sturmessausen der Jahrhunderte, kaum daß hier eine armselige Ruine, ein paar algenumsponnene Säulen im Meeresgrunde, etwas antikes Gemäuer im Sumpf, oder dort eine dürftige, halbchristianisirte Sage als Tradition noch Kunde giebt aus dem glorreichen Morgen der Magna Graecia.

Les dieux s’en vont… Die Götter haben sich davon gemacht; als armselige Bettler, ihre Lumpenbündel voll Poesie auf den Rücken, wanderten sie in’s Exil, und in ihren verödeten Zaubergärten pflanzte der kalte Verstand seinen Kohl. In unsern Kinderstuben haben die kleinen Hände längst schon an der uralten Heiligkeit des Knechtes Ruprecht gerüttelt, und die modernen Traumdeuter der Antike erklären, daß Polyphem, der ungastliche Einäugige, den kreisrunden, steinschleudernden Krater bedeute, Vulcan die wilden, durch Erdbeben sich bezeugenden Kräfte, die schöne Zauberin Kirke, welche die Gefährten des Odysseus in Säue verwandelt, den männerhinstreckenden Wein des circejischen Vorgebirgs u. dergl. m.

Und so darf es nicht Wunder nehmen, wenn die dem Knaben einst so furchtbare, gigantische Scylla, heut ihrer Schrecken entkleidet, zu einer mythischen Allegorie zusammenschrumpft, und auch von dem abergläubigsten Calabrienfischer nicht mehr respectirt wird.

„Scylla, Du bist nicht mehr so gewaltsam, wie Du zuvor warst,“ singt ihr Platen, da er eine Nacht in der Locanda zunächst ihres Felsens zugebracht, keck in’s Gesicht und dichtet der Aermsten an, zwar noch immer Reisende zu plagen, aber nur vermittelst eines Heeres jener auch „Herren und Frauen am Hofe“ plagenden schwärzlichen Springer.

Das war zu Homer’s Zeiten anders, und nach seiner Erzählung und alten Kupferstichen malte sich unsere kindliche Phantasie Person und Local der Scylla mit lebhaften Farben aus; drohend trat uns die angstvolle Flucht von der Scylla in die Charybdis entgegen, die uns als das ärgste „Aus dem Regen in die Traufe kommen“ erscheinen wollte.

Und der arme meerdurchirrende Odysseus gerieth in diese Traufe, die Homer mit der lebhaften Phantasie meeranwohnender Männer als einen mächtigen Felsen schildert, der sein spitzes Haupt bis zum Himmel reckt; dunkle Wolken umwallen ihn, und nie sieht man den Gipfel; auch erstiegen ward er nicht; denn seine Wände sind, an das deutsche Märchen vom Glasberg erinnernd, glatt wie Krystall. Das aber braucht den Wanderer nicht zu beirren; die Gefahr liegt ganz wo anders: der Felsen birgt die entsetzliche Höhle mitten im Gestein, dicht über den Meereswogen; denn hier haust sie, die Scylla, das bellende, durch zwölf breittatzige Füße und sechs Hände und ebenso viel Köpfe zum Schreckbild gestaltete Scheusal. Wie ein ungeheurer Krake steckt sie halbleibs in das Felsenloch eingezwängt, während die Freßwerkzeuge heraushängen und wühlend und tastend in dem schäumenden Wasser herumschnappen. Seehunde, Delphine und anderes Meergethier fallen der Bestie zur Beute, als Fettleckerbissen jedoch entrafft sie den vorübereilenden „schwarzgeschnäbelten Meerschiffen“ dann und wann einen Mann, auch sechs auf einmal, wie sie es dem Fahrzeug des Odysseus gethan. Aeneas wäre es gerade so gegangen, hätte ihn Helenus der Seher nicht gewarnt, welcher rieth:

„Besser ist’s, Du umfährst das trinakrische Haupt des Pachynus,
Als Du schauest im großen Geklüft die gräßliche Scylla
Einmal nur, und die Felsen, durchhallt von bläulichen Hunden.“

Und als er nun fern aus der Fluth Siciliens Aetna tauchen sieht, vernimmt er ein gewaltiges Tosen der Wogen am Felsen und gebrochenes Getön am Gestade, woran Vater Anchises die gefährliche Klippe erkennt, von der ihnen Helenus gesprochen; sie umgingen diese, indem der Steuermann Palinurus den krachenden Schiffsschnabel links in die Meerfluth drehte. Sonst gab es gegen diese Gefahr nur ein Mittel; es ist dasselbe, welches die Zauberin Kirke dem Odysseus anrieth: Kratäis, die Mutter des Scheusals, anzurufen und es durch diese bändigen zu lassen.

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