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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

9.

Der Tag, welcher für den alten Herrn so freundlich und verheißungsvoll begonnen, sollte für den armen Gebieter auf Dortenbach den unbefriedigendsten Verlauf nehmen.

Leonhard war zu ihm zurückgekehrt, aber mit einem ganz veränderten Gesicht, mit einem eigenthümlichen Flimmern und unstäten Funkeln der Augen.

„Fräulein Bertram will von Ihrem gütigen Vorschlage nichts hören, Herr Baron,“ sagte er mit ganz veränderter Stimme, „sie lehnt ihn so entschieden ab, daß ich –“

„Wie – sie will nicht –“

„Daß ich,“ fuhr Leonhard ohne sich unterbrechen zu lassen fort, „Sie bitten muß, kein Wort mehr bei ihr selbst darüber fallen zu lassen. Es würde nichts helfen, und Sie würden sich nur unnütz aufregen. Adio!“

„Adio? Wohin wollen Sie so rasch?“

„Wohin ich will? Nun ja, wohin ich will? In’s Freie, Baron – zu meinen Eltern – in den Wald – ich komme zurück.“

Und damit eilte er davon.

Der Baron klingelte.

„Andreas,“ sagte er, als dieser erschien, „bitte das Fräulein Bertram, zu mir herüberzukommen; sie soll mir sagen, ob diesem Klingholt etwas zugestoßen ist, ob er krank ist.“

Andreas ging.

Nach wenigen Minuten kam er mit der Meldung zurück:

„Das Fräulein läßt sich entschuldigen – sie leidet so stark an Migräne, daß sie bittet, sie auch für die Mittagstafel zu entschuldigen.“

„Ah“ – sagte der alte Herr überaus verdrossen – „das ist ärgerlich. Was haben denn diese beiden Menschen heute? Ich hatte ein so hübsches Thema zum Tischgespräch für den Doctor und sie. Weißt Du, Andreas, es geht mir nichts über ein gutes friedliches Tischgespräch. Er sollte mir erklären, wie es kommt, daß unsere Zeit, welche so entsetzlich viel Neues schafft, erdenkt, erfindet – so staunenswerthe große Dinge in’s Werk setzt –“

„Wird denn der Herr Doctor nicht zum Essen kommen?“ unterbrach ihn Andreas.

„Schwerlich, schwerlich – der Deserteur stand ihm im Gesichte geschrieben – es muß ihm etwas passirt sein – aber laß mich ausreden, Andreas: – woher es kommt, daß dieselbe Zeit eine solche Gier nach unnützem altem Plunder hat, nach alten Steinbrocken, Topfscherben und vor Allem nach alten Briefen, zum Beispiel von Gryphius an seine Waschfrau oder von Leisewitz an seinen Buchbinder –“

„Große Herren haben ihre Schrullen; vielleicht haben’s große Zeiten auch,“ meinte Andreas. „Soll ich jetzt den Herrn Sergius zu Tisch laden?“

Der alte Herr ergab sich mit einem leichten Seufzer in die Aussicht auf den Ersatz, den der Alles wissende Sergius bot, und dann sann er im Stillen darüber, wie es möglich, daß sein schöner Plan bei Reginen eine so wunderliche Aufnahme gefunden habe.

Ihre Migräne mußte übrigens der Art sein, daß sie ihr die frische, freie Luft draußen zum Bedürfniß machte; denn sie ging soeben, nur mit ihrem leichten grauen Sonnenschirm versehen, in die Anlagen hinaus.

In Reginens Innerem arbeitete es heftig; ein Gedanke nur beschäftigte sie, eine einzige zornige Frage, die Frage nämlich: wozu sie sich entschließen, was sie thun solle, ob sie jetzt ohne Aufschub Dortenbach verlassen solle oder nicht. War es jetzt noch ihre Pflicht, bei dem alten kranken Manne, der freilich nun einmal ihrer Mutter Bruder war, auszuhalten? War diese ganze Pflichtvorstellung nicht überhaupt nur eine vor ihren Augen heraufbeschworene, abscheuliche Vorspiegelung, ersonnen, um sie nach Dortenbach zu locken? Und war sie jetzt, wo der Oheim ihr Incognito durchschaute – das that er ja ganz ohne Zweifel – hier noch einen Augenblick sicher? Würde der Oheim sie nicht an Andreas, seinen vertrauten alten Andreas, verrathen und dieser nicht an die Verwandten? Oder, wenn er nicht, würden nicht Leonhard’s Eltern, die von diesem wohl auch eingeweiht waren, ihr Geheimniß an den Tag bringen? Und dann hatte sie mit der lieben Sippschaft, die ihr so unaussprechlich widerwärtig war, sich aus einander zu setzen – es blieb ihr in der That gar nichts Anderes übrig, als auf und davon zu gehen.

Und doch wurde der Entschluß ihr schwer – sie vermochte nicht, ihn rasch und mit freier Seele zu fassen – sie hatte für den alten Herrn, obwohl sie ihn verurtheilte, obwohl sie seine Schwäche verächtlich und hassenswürdig fand, doch ein Interesse gefaßt; ein Gefühl der Zusammengehörigkeit war in ihr entstanden; ein innerliches Band hielt sie an seiner Seite, so lange er ihrer bedurfte, wenigstens so lange sie ihm wohlthun konnte. Und die Räume, in welchen sie sich hier bewegte, diese Gärten und Parkpfade, auf welchen bei ihren einsamen Wanderungen wie ein unsichtbarer Schatten das Bild ihrer Mutter sie begleitete und lebhafter, deutlicher, greifbarer, als es je in der Stadt von ihrer Phantasie ihr vor die Seele gezaubert wurde, neben ihr dahinglitt – alles das hatte etwas Bindendes, Festhaltendes, was ihr den Gedanken der Trennung schmerzlich machen wollte. Und dann – das lag ja auch noch auf dem Grunde all ihrer empörten, verzweiflungsvollen Gedanken, das widerspruchsvolle stille Ahnen und Hoffen, daß es für Leonhard eine Schuldmilderung gebe, daß noch etwas Versöhnendes kommen und sie dann ihr zu hartes Wort bereuen lassen könne – und das mußte doch hier sich fügen, hier abgewartet werden.

Regine war lange Zeit, bald rasch, bald langsam schreitend und bei jedem Schritte die Spitze ihres Sonnenschirmes in den weichen Sand der Pfade stoßend, gedankenvoll umher gewandert, bis sie bei diesem planlosen Irren durch die Anlagen und den anstoßenden Theil des Waldes sich plötzlich einem alten Gemäuer gegenüber sah. Es war jene Capellenruine, an welche wir den Baron seine mythologischen Combinationen knüpfen hörten. Regine, welche das Gebäude nicht kannte, hielt es für eine künstliche Ruine, welche die Zeit zu einer richtigen umgewandelt; sie hatte sie wenigstens dicht mit Epheu umsponnen, dessen Gerank und Zweige das graue alte Gestein zusammenzuhalten schienen, und selbst die spitzbogige Eingangsthür wie mit einer grünen Portière überhingen.

Als Regine sich seitwärts näherte, vernahm sie Stimmen, die da drinnen lebhaft und rasch wechselten – betroffen blieb sie stehen, sie glaubte, die Stimme Leonhard’s zu erkennen – eine weibliche Stimme, weiche ihm antwortete, war offenbar die Dora’s. Sie schritt näher – das weiche Moos, welches rings den Boden bedeckte, machte sie völlig unhörbar – wie in aller Welt kam Leonhard dazu, sich hier in diesem versteckten Winkel des Waldes, den Regine gar nicht kannte, ein Rendezvous zu geben – mit einem Kinde wie Dora? Sie fragte sich das so lebhaft und stürmisch, daß sie unwillkürlich herantrat, wie gebannt vom Klange dieser Stimme. Als sie bis zu dem Gemäuer, zu dem kleinen, in der Seitenwand angebrachten Fenster, das seiner Scheiben längst beraubt, aber von Epheu dicht umsponnen war, gekommen, sah sie, daß sie sich getäuscht hatte; durch die Zwischenräume der dichten Blätter und Ranken konnte sie das Innere überschauen, und nun nahm sie ein sehr hübsches Bild wahr, welches Reginen, wenn sie in anderer Stimmung gewesen, wohl ein Lächeln abgelockt hätte, jetzt aber nur Ueberraschung bei ihr hervorrief. Hoch oben auf dem verstaubten Altar der Capelle saß in ihrem weißen Kleidchen Dora; sie trug auf ihrem gelösten und lang über die Schultern hinfallenden blonden Haare eine große, kunstreich aus Kornblumen geflochtene Königskrone und bildete mit dem langen Farrnkrautstengel, den sie, wie eine Heilige ihre Palme, in der Hand hielt, eine sehr hübsche, aber auch sehr kindliche Tableaufigur, von der man nicht recht wußte, ob sie eine Madonna oder eine Ophelia vorstellen wollte.

Vor ihr auf den Stufen des Altars knieete Edwin; er betete zwar nicht zu der wunderlichen Göttin vor ihm, aber er war offenbar beschäftigt, ihr ein Opfer zu bringen; denn er ordnete und band aus einem Haufen vor ihm liegender Waldblumen einen dicken Strauß, so gut es bei der fortwährenden Störung eben anging – denn Dora senkte jeden Augenblick ihre Heiligenpalme, um ihn damit bald auf den Scheitel, bald am rechten, bald am linken Ohre zu treffen und zu kitzeln.

„Wenn Du mich nicht bald in Ruhe läßt, entreiße ich Dir Dein Scepter,“ sagte Edwin; „Du kindliche Regina Angelorum.“

„Dann thue ich ein Wunder und verwandele Dich.“

„In was?“

„In einen verwunschenen Prinzen.“

„Damit Du ihn mit einem Kusse wieder erlösen kannst? Nur zu!“

Das Farrnkraut flog ihm heftig an den Kopf. Dabei zerknickte der feine Stengel.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_290.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)