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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Die Feriencolonien.
Von Dr. Woldemar Götze.

Es war im Hochsommer des Jahres 1880. In Leipzig hatte man zum ersten Male den Versuch gemacht, arme kränkliche Schulkinder als Feriencolonisten in die heilkräftigen Wälder des Erzgebirges zu entsenden. College B. und ich, mit Familie und ein paar guten Freunden selbst eine kleine Feriencolonie bildend, besorgten die Geschäfte des Leipziger Comités an Ort und Stelle und hatten dafür unser Hauptquartier im Rathskeller des prächtig gelegenen Städtchens Schwarzenberg aufgeschlagen. Wiederum sollte eine Inspectionstour durch alle Colonien ausgeführt werden, und so traten wir denn in der ersten Morgenfrühe, allzu zeitig für städtische Schlafgewohnheiten, unsere kleine Reise auf einem leichten Wagen fröhlich an. Der Thau glänzte auf den Gräsern; vor uns hingebreitet lagen Berge und Thäler, und mit Behagen sogen wir die kühle, erquickende Waldluft in unsere solchem Genusse fast entfremdeten großstädtischen Lungen ein. Der ersten Knabencolonie begegneten wir auf einem Waldspaziergange. Da kamen sie heran, die kleinen Bursche, die Botanisirtrommeln voll Blumen, Kraut und Unkraut, die Taschen voll Steine; der Eine hatte für die Mutter daheim Pilze gesammelt, der Andere für den eigenen Bedarf Beeren in ein Körbchen zusammengepflückt. Mit leuchtenden Augen erzählten sie uns von ihren Erlebnissen und Entdeckungen im Walde und ahnten nicht, welche Freude wir selbst an ihrer Frische und Munterkeit hatten.

So ging es den Tag über weiter von Colonie zu Colonie. Hier waren wir Zeugen des fröhlichen Spieles und Gesanges der Mädchen, dort überraschten wir eine andere Ferienfamilie bei der Siesta nach dem Mittagsbrode, die durch die gemeinsame Lectüre einer schönen Geschichte gefeiert wurde. Eine muntere Schaar, die wir beim Turnreigen in der Scheune getroffen hatten, begleitete uns zur Nachbarcolonie und erzählte uns voll strahlenden Glückes von ihrem Einzuge in das Dörfchen, den sie auf einem mit frischem Grün geschmückten, von Kühen gezogenen Leiterwagen gehalten hatte. Dann wieder plauderten mittheilsame kleine Mädchen uns von der großen Wäsche, welche sie unter der Leitung der wackeren Hausfrau angestellt hatten, und thaten sich auf die Errungenschaft, ihre Kleider und Strümpfe selbst waschen zu können, sichtlich etwas zu Gute. Die Knaben konnten ihre Selbstständigkeit nur beim Reinigen ihrer Kleider und Schuhe, sowie beim Bettmachen bethätigen, doch hatte auch hier die Erziehung zur Selbsthülfe bei manchem ungeschickten Stadtkinde sichtlich gute Früchte getragen.

Ueber dem Wandern und Einkehren kam denn auch der Abend heran. Unser kleiner Wagen hatte schon lange umkehren müssen; wir gingen in Begleitung einer Mädchencolonie dem letzten Ziele der Wanderung, einer auf luftiger Höhe gelegenen Bauernschenke, zu. Unvergeßlich wird mir jener Abendgang durch den schönen Buchenwald sein. Das muntere Mädchengeplauder war verstummt; die Kinder gingen Hand in Hand vor uns her; man spürte es wohl: die Weihe und der Friede da draußen in der Natur hatte mit gleicher Stimmung die jungen Herzen berührt. Da hob eine helle Mädchenstimme den alten, lieben Canon zu singen an: „O, wie wohl ist’s mir am Abend, mir am Abend“ – und so klang gar bald der liebliche Kindergesang in harmonisch sich verschlingenden Tönen durch den stillen Wald.

Später kehrten wir dann in der Bergschenke mit dem prächtigen Blicke auf das uns zu Füßen liegende Schneeberg ein. Ich hätte es den edlen Menschen, die durch ihre Gaben unsere Feriencolonien zu Stande kommen ließen, gegönnt, Zeugen des Appetites zu sein, mit dem hier die Kleinen die frugale Abendsuppe verschwinden ließen. Noch lieber aber hätte ich der Mann sein mögen, den nach dem Abendbrode die kleine Schaar bei seinem Erscheinen mit ausgestreckten Händchen und bittenden Blicken umringte: der Briefträger! So einfach die Worte waren, die in diesen Briefen standen, sie machten die Kinder überglücklich; denn sie waren ein Gruß aus der Heimath, von den Lieben; woben sie doch ein Band zwischen dem Elternhaus und dem fernen Kinde. Vielleicht auch waren Manche, Eltern wie Kinder, durch die Trennung erst darauf geführt worden, wie eng sie zusammengehörten.

„O lieb, so lang du lieben kannst,
O lieb, so lang du lieben magst –“

das war die Empfindung, die den Kindern aus den Augen leuchtete, die ungeschrieben zwischen den Zeilen der Briefe zu lesen stand. Als dann alle Grüße ausgerichtet und alle Neuigkeiten erzählt worden waren, ging es schlafen. Um den runden Tisch in der Oberstube sammelten sich die Kinder und falteten die Hände zum Gebet; dann hieß es Gute Nacht, und nach kürzester Zeit schlummerte die eben noch so lebendige Schaar friedlich und fest neben einander auf den einfachen Lagerstätten.

Wir verabschiedeten uns von dem wackeren Colonieführer und begaben uns nach Schneeberg, wo auch wir unsere Ruhe fanden. – – –

So viel in aller Kürze über die Eindrücke, welche wir auf unserer Inspectionstour empfingen! Waren schon diese Eindrücke durchaus angethan, uns in der guten Meinung zu befestigen, welche wir von der Sache der Feriencolonien längst gewonnen hatten, so sahen wir, als dann später nach dreiwöchentlichem Aufenthalt im Gebirge die Kinder in die Stadt zurückkehrten, unsere Hoffnungen zu unserer Freude noch weit übertroffen; denn da konnten nicht nur die Aerzte in Zahlen die geradezu überraschenden Zunahmen der Körpergewichte und der Brustumfänge nachweisen, da zeigte es auch der unmittelbare Augenschein, wie die Kinder unter den günstigen Bedingungen aufgeblüht waren, etwa so wie welke Pflanzen aufleben, wenn die Sonne ihnen lächelt und sie vom Regen und Thau getränkt werden. Und damit noch nicht genug: die Feriencolonie war ein Segensquell auch für das innere Leben der Kinder gewesen; denn sie hatten das Landleben kennen und lieben gelernt; sie waren mit einer Menge einfacher Anschauungen bereichert worden. Besonders werthvoll aber für die Erweiterung des geistigen Horizontes der Kleinen waren die Besuche der vielen industriellen Unternehmungen des Erzgebirges geworden. Die Kinder haben Bergwerke, Eisenhämmer, Blechwaarenfabriken, Holzschleifereien, Blaufarbenwerke etc. besucht und die namhaften Hausindustrien des Erzgebirges, wie das Spitzenklöppeln, die Gorlnäherei, das Tambouriren aus eigener, oft wiederholter Anschauung kennen gelernt. Mehr noch als dieser Gewinn gelten aber die tiefen und mannigfachen Anregungen, welche sie für ihr Gemüthsleben empfingen. Der Umgang mit der Natur vom thaufrischen Morgen bis zum Abend zeigte ihnen reine Freuden, die auch dem Aermsten zugänglich sind.

So kam es, daß in den Gemüthern, die sonst von Sorge und Kummer niedergedrückt waren, helle Lust am Leben aufblühte, daß manches durch Armuth und Krankheit geängstete Kinderherz höher schlug in dem frohen Gefühl, welches die wachsende Gesundheit und Kraft gewährt.

Bei den augenscheinlichen erfreulichen Erfolgen, welche die Feriencolonien überall erzielt haben und zu denen die obigen Mittheilungen nur ein kleines Beispiel liefern wollten, bedarf es wohl kaum noch einer systematischen Beweisführung für deren Vortrefflichkeit. Statt einer solchen Beweisführung wollen wir nur einfach auf die rasche Entwickelung der Feriencolonien aus einem unscheinbaren Keime und auf ihre ungewöhnlich schnelle Verbreitung hinweisen.

Der Anfang der Feriencolonien ist folgender: Pfarrer Walter Bion in Zürich, aus dem Appenzeller Lande nach Zürich versetzt, faßte, angesichts der bleichen, blutarmen Stadtkinder, welche ihm dort begegneten, den Entschluß, eine Anzahl derselben für die Ferienzeit in seine frühere Gemeinde auf das Land zu bringen. Ueber den günstigen Verlauf des Unternehmens berichtete er sodann einer Zeitschrift für schweizerische Aerzte. Dieser Aufsatz kam in die Hände des Sanitätsraths Dr. Barrentrapp in Frankfurt am Main, der dann für die weitere Verbreitung der Idee in der medicinischen Presse sorgte und zugleich die Frankfurter Feriencolonie in’s Leben rief. Dem Beispiele Frankfurts aber eiferten in rascher Folge viele deutsche Städte im Süden wie im Norden nach.

Im Jahre 1876 führte Bion die erste Züricher Colonie auf die Appenzeller Berge, und schon fünf Jahre später, am 15. November 1881, tagte in Berlin ein Congreß, auf welchem Vertreter von Feriencoloniecomités aus ganz Deutschland, aus Oesterreich und der Schweiz ihre Erfahrungen über das Coloniewesen austauschten.

Seitdem hat die Idee weit über die Grenzen Deutschlands und der Schweiz, wo sie ziemliche Ausbreitung gefunden hat, hinaus Wurzel gefaßt. Hier nur einige Beispiele! Im verwahrlosten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_283.jpg&oldid=- (Version vom 9.2.2023)