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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

und tiefgründigen Wissens, den Du in der schlichten Hülle Deiner bescheidenen Persönlichkeit bargst, mein alter Freund, liebenswürdigster unter den Junggesellen. Lebhaft steht Dein Bild noch vor meiner Seele: die kleine, unansehnliche Gestalt, die klugen, milden Augen, die klare Stirn, welche trotz des Alters von dichtem, ungebleichtem Haar umrahmt war! Durch die Gassen der ehrwürdigen Universitätsstadt Leipzig sehe ich Dich im altmodischen Kleide schreiten; ich sehe Dich mit altväterlicher Förmlichkeit da und dort ein bekanntes Gesicht grüßen und still Deiner Wege gehen. Das ist nun lange her.

Und doch ist es mir, als wäre es noch heute, als müßte ich eintreten in Dein einsames, hochgelegenes Heim. Hochgelegen wahrlich! Hoch über dem Treiben der wechselnden Menge hast Du ein halbes Säculum hindurch gewohnt: im Thurmhause der Pleißenburg war Dein Heim, und hoch über dem Thorweg, der nach der Promenade zu liegt, schaute oft Dein ruhiges, freundliches Gesicht in das Menschentreiben hinab.

Ich steige noch einmal zu Dir hinauf, alter Freund, in die einsame Thurmstube. Hinter mir bleibt der Lärm und das Gewoge des Lebens – hier oben ist es friedlich still. Der blaue Himmel blickt durch die offenen Fenster herein, auf deren Brüstung, im Sonnenschein girrend, die Tauben sitzen, die in diesem Raume willkommene, ungestörte Gäste sind. Zwei alte gepolsterte Stühle, ein einfaches Schreibpult, bedeckt mit Büchern und Druckbogen, ein primitiver Papierkorb, ein Regal mit Gläsern und Flaschen, dazwischen die vielgebrauchte Studirlampe, ein Büchergestell und ein Schlafsopha – das ist die Einrichtung der weltfernen Junggesellenwohnung. Auf dem Boden liegt eine aufgeschlagene Kiste mit Büchern und Papieren; im Hintergrunde singt die alte Theemaschine ihr trauliches, brodelndes Lied, an der verräucherten Wand aber hängt ein längst vergilbter Lorbeerkranz mit seidenem Bande – ein verstaubter, welkender Zeuge schönerer, vom Sonnenglanze der Jugend vergoldeter Tage.

Und in diesem Stillleben steht der alte Candidat und merkt nicht, wie die Dämpfe des bereits kochenden Wassers aus der Theemaschine aufsteigen und wie die weiße Taube zu seinen Füßen nach dem gewohnten Futter sucht. Angethan mit dem langen, grauen Schlafrocke, die hohe Hausmütze auf dem Kopfe, steht er sinnend da und prüft mit ruhiger Ueberlegung, was er soeben gelesen. Nun klappt er das Buch zu und tritt an das offene Fenster. Blauer Himmel und lichter Sonnenschein, wie hat er euch so lieb, der alte, einsame Mann, der wie ein Kind sich fürchtet, wenn Gewitterwolken über seinem Thurme sich zusammenballen und gelbfahle Blitze die Stirn seines lieben Himmels durchfurchen! Er wohnt höher, als die anderen Menschen, und sein Herz ist besser und reiner, als die sind, welche da unten rennen und ringen, jagen und drängen. Er hört in seiner Höhe die Uhren schlagen und die Glocken läuten, und sie tönen ihm heller und mahnender, als den Anderen, die tief unter seinem Fenster hinwandern in Leid und Lust.

Wie sonnendurchleuchtet ist heute der Tag! Eine reine, ätherklare Luft weht ihn an, und er athmet sie mit innigem Behagen ein; sie gemahnt ihn an den Waldeshauch seiner lange entbehrten thüringischen Heimath.

O, du lieblich frische Idylle im freundlichen väterlichen Forsthause! Es ist schon lange her! Tannendurchrauschte, waldeinsame Jugendzeit – wer dich noch einmal durchleben dürfte! Die grünen Bäume umschatteten das Elternhaus und sahen den lustigen Knaben im Kreise der Gespielen: des Vaters Büchse knallte im nahen Forst, und die Mutter saß vor der braunen Thür, über der das Hirschgeweih prangte, und hielt den Strickstrumpf in der fleißigen Hand – vorbei, vorbei! – Dann kam er, ein blutjung Bürschlein, nach dem gassen- und giebelreichen Leipzig, auf das Alumnat der altehrwürdigen Thomas-Schule, und sehnte sich – wie bald schon! – aus dem Staube und Dunst der Mauern nach seinem Walde zurück. Auch das ward überwunden. Ist die Natur eine milde Fee, in deren Schooße es sich süß träumen läßt, so ist die Wissenschaft eine ernste, aber wunderthätige Göttin, welche die Träume scheucht und das forschende Auge stärkt und stählt, und wer beiden nicht dienen kann, der findet, wenn er ehrlich strebt, Trost auch bei der einen – hier oder dort. Ihm galt’s der ernsten Göttin dienen; ihm galt’s forschen, ringen, erkennen. Er bezog die Universität. Zu den Füßen der Gottesgelahrtheit saß er, und eines Tages – er erschrak fast[WS 1] über die praktische Wendung, die sein Leben nun nehmen sollte – eines Tages stand er an der Schwelle eines geistlichen Amtes. Forschen, ringen, erkennen – ja, das war ihm innerstes Geistesbedürfniß – aber frei forschen und ringen, frei bekennen, was er frei erforscht. Ein geistliches Amt! Dem Staate verantwortlich sein! Einem Staate von Knechten des Dogmas! Da kam der Tag, an welchem er die entscheidende Predigt halten sollte. Er betrat die Kanzel; unter ihm saß die andächtige Gemeinde; Orgelton und Kirchenlied war verklungen, und nun begann er zu den Andächtigen zu sprechen. Seine eigene Stimme kam ihm so seltsam vor, so laut und doch so unsicher; er fühlte, daß, was er sagte, nicht seine tiefinnerste Ueberzeugung war – die Pulse jagten ihm schneller; sein Denken verwirrte sich; er verlor den Faden der Rede und deckte mit einem improvisirten Schlusse nur nothdürftig den Rückzug. Seit jenen Tagen hat er die Kanzel nie wieder bestiegen; er hätte vor sich selbst erröthen müssen, wenn er es gethan – er war eben ein Charakter. Wo ihm die lebendige Ueberzeugung fehlte, mochte er nicht eintreten mit seinem Selbst. So wurde er Corrector, nur ein Corrector, statt eines Pfarrers.

Seitdem lebt er nun hier oben in der alten Thurmstube und liest Jahrzehnte hindurch die Correcturen gelehrter Werke, einsam, ruhig und unverzagt. Dies giebt seinem Geiste Nahrung, seinem Leibe Brod. Die Producte der erlauchtesten Geister, noch ehe sie die Welt in Aufregung versetzen, steigen zu ihm in die stille Thurmstube hinauf; bevor die Kritik ihre Feder gespitzt zu ihrer Beurtheilung, saugt schon der kleine Mann mit den klaren, milden Augen bienengleich den ersten Honig aus den leuchtenden Geistesblüthen. Seltsame Poesie des Correctorlebens!

Noch immer steht er am Fenster, der alte Candidat – und träumt und träumt – von der Jugend träumt er und von Thüringens Waldesduft, vom lustigen Studentenleben und dem Sturm und Drang seines wissenschaftlichen Strebens – dahin, dahin, alles dahin! Nun aber tritt er zurück in’s Zimmer, und während er dem dampfenden Kochapparate sich zuwendet, summt er eine Arie aus einem Oratorium vor sich hin. Ja, Musik und Gesang war in jungen Jahren seine Freude gewesen, und sie ist ihm lieb geblieben bis heute. In der tannenduftigen Heimath hat er das Singen gelernt von den lustigen Vögeln der Wälder, und von der sangesfröhlichen Mutter, und die Thomas-Schule hat der frischen Natur die Weihe der Kunst hinzugefügt. Einst trug er einen ganzen Reichthum in seiner Kehle – aber er hat es selbst nicht gewußt.

Durch das offene Fenster weht der Wind herein; er rauscht durch die dürren Blätter des vergilbten Lorbeerkranzes dort über dem Pulte, und aus dem Rauschen klingt es leise, wie eine gedämpfte Stimme: „Nicht gewußt, nicht gewußt!“

Nun lächelt der alte Candidat. Süße Erinnerung! Es war eine schöne Zeit, als er, jung und lebensfrisch, die strahlenden Lampen über sich sah, die strahlenden Lampen des berühmten Gewandhauses da unten in der Stadt, als er als Solosänger manch schmelzendes Lied vor der lauschenden Menge sang, als der Beifall des Hauses ihn belohnte, als er den Lorbeer empfing, der nun vergilbt und verdorrt. Ja, es ist noch derselbe Lorbeer. „Nicht gewußt, nicht gewußt!“ rauscht es in seinen Blättern. Armer Alter, was hast Du verscherzt! Du warst zu bescheiden, und so wurdest Du – ein Corrector, nur ein Corrector.

Aber es war nicht immer so einsam wie heute in dem luftigen Thurmgemache der Pleißenburg; dann und wann kam ein freundlicher Besuch aus dem Treiben der Stadt herauf in die stille Stube, und dann hatte der gute Alte immer ein Fläschchen Wein, eine Cigarre oder wohl gar eine Delicatesse seinen Gästen vorzusetzen. Das brauchte er zumeist nicht einmal zu kaufen; seine guten Freunde schickten Das und Jenes. Der alte Schrank in der Ecke war seine Schatzkammer: dahin stellte er sein Lieblingsgericht, das eine freundliche Hausfrau dem einsamen Junggesellen schickte, und bewahrte es, so lange es gehen mochte, um sich gleich einem Kinde recht lange auf den Genuß freuen zu können; dort barg er Obst und Erfrischungen, Cigarren und Wein – nicht für sich, nur für die Gäste, welche die vielen Stiegen zu ihm herauf nicht scheueten. Er war eine gute Seele, der alte Corrector.

Aber nicht nur gut war er – sein Leben hatte auch große Züge. Da hatte er irgendwo einen Freund gehabt und in dessen Auftrage ein Lotterieloos gespielt – Jahr für Jahr; der Freund zahlte den Einsatz, aber er gewann nicht, sodaß er endlich mißmuthig

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ast
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_268.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2023)