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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

ein graues Eichhörnchen ihre Ruhe störte. Reich vertreten war auch die Vogelwelt. In den Lüften schwebten weißköpfige Adler, Habichte und Falken von mächtiger Spannweite, während im seichten Wasser die Reiher auf Beute lauerten. Aus der Tiefe des Urwaldes aber klang das einförmige Hacken der Spechte und das Gurren der wilden Tauben, von den Wassertümpeln her das Geschnatter der vielartigen Enten und Gänse zu uns herüber.

Numerisch am häufigsten vertreten von allem Gethier war aber unstreitig die Classe der Netzflügler, die von ihrer Existenz auf die unverschämteste Weise Kunde zu geben pflegten. Die Muskitos vereinigen die Findigkeit deutscher Postbeamten mit der Rücksichtslosigkeit der russischen Nihilisten. Die kleinste Blöße des menschlichen Körpers wird entdeckt; an die Stelle der im Kampfe gefallenen rücken sofort noch zahlreichere Ersatzmannschaften nach; das unglückliche Opfer, des ewigen Sichselbstohrfeigens müde, hält zuletzt verzweifelnd still, und das satanische Insect bleibt Sieger.

Von Burlington aus gelangten wir über Dallas und Madison, in deren Nähe der etwa drei Meilen breite Strom zahlreiche Sandbänke und niedrige Inseln bildet, nach der ehemaligen Mormonenstadt Nauvoo, die im Jahre 1840 unter der Führung des Propheten Joë Smith gegründet, acht Jahre später aber in Folge der entstandenen Streitigkeiten mit der Regierung nach vorheriger Niederbrennung des prachtvollen Tempels von den „Heiligen der letzten Tage“ wieder aufgegeben und mit Utah, der bekannten späteren Niederlassung am Salzsee, vertauscht ward. Die berüchtigten Stromschnellen von Keokuk machten uns, dank dem hohen Wasserstande, nichts zu schaffen. Wir kamen glücklich hinüber und passirten demnächst Alexandria, einen unbedeutenden Ort, in dessen Umgebung die gesammte Städtegeographie des classischen Alterthums sich ein modernes Stelldichein gegeben zu haben scheint. Unweit von Alexandria liegen nämlich Arbela und Gaugamela, etwas entfernter Karthago und ähnliche archäologisch interessante Ortschaften. Charakteristisch für diese an’s Komische streifende Vorliebe der Amerikaner für historische Reminiscenzen ist der Lebenslauf eines bekannten amerikanischen Politikers. Der Mann war nämlich von einer aus Ninive stammenden Mutter in Karthago geboren, genoß in Rom seine Erziehung, lebte dann in Athen, heirathete in Syrakus eine Jungfrau aus Sparta, starb in Troja und liegt in Memphis begraben. Gott Pluto hab’ ihn selig!

In das Reich des Pluto wären wir übrigens auf unserer Weiterreise nahezu selbst hinabgestiegen. Das war jenseits des Ortes Hannibal. Wir waren nämlich, ohne es zu bemerken, in einen Seitenarm des Mississippi gerathen, der hier einen etwa drei Meter hohen Wasserfall bildete. Fast wären wir von dem wilden Strudel begraben worden, doch kamen wir auch diesmal, wenn schon in jähem Sturze und vollständig durchnäßt, hinüber und konnten uns von dem ausgestandenen Schrecken im Städtchen Louisiana wieder erholen.

Je mehr wir jetzt dem Süden zueilten, um so üppiger, wilder und großartiger gestaltete sich die landschaftliche Scenerie. An den Uferborden reckten wahre Baumriesen ihre zackigen Aeste aus dem undurchdringlichen Gestrüppe von Blätterwerk und Schlingpflanzen hervor. Wilder Wein schwang sich in erstaunlicher Fülle an den Stämmen hinauf und sandte von den Gipfeln aus seine Ranken in weitem Bogen wieder zum Erdboden hernieder. Hier und da ragten wie Wartthürme die kahlen, absterbenden Greise des Waldes über das unendliche Meer buntfarbiger Baumwipfel empor, ein Ausguck für die Schaaren der Habichte, Bussarde, Reiher und Aasgeier.

Wunderbar waren die Abende. Um diese Zeit flammte das ganze Firmament in kupferfarbener Gluth, und wie ein weiter See voll glühenden Metalles erschien die ohne Wellenschlag, ohne jede sichtbare Bewegung dem Süden zutreibende Wasserwüste, eingezäunt nur durch zwei lange schwarze Uferlinien, deren Ende hinter den tiefdunklen Silhouetten großer Inseln verschwand. Fliegend schnell kam die Dämmerung. Während im Westen noch gluthrothe Wolken zogen, lagerte im Osten schon bleischweres Dunkel, aus dem nur hin und wieder ein Stern schüchtern hervorleuchtete. Und dann kam die Nacht, und aus den schwarzen, gespenstischen Massen des Ufers erscholl der Eule dämonisches Lachen und des Ochsenfrosches seltsames Blasen, während allüberall roth, grün, gelb und blau phosphorescirende Funken aufleuchteten, um sofort wieder zu verschwinden.

Zwanzig Reisetage lagen bereits hinter uns, und wir zogen, von krachenden Gewittern halb belästigt, halb erquickt (denn die Sonnengluth Tags über wurde allmählich immer drückender), an der Einmündung des Illinois und an jenen seltsamen Kaltsteinformationen vorüber, die sich von hier bis nach Alton das ganze linke Stromufer entlang erstrecken. Einzelne dieser Felsgebilde sollen in früherer Zeit mit indianischen Sculpturen und Malereien geziert gewesen sein, für deren Zerstörung man die Franzosen verantwortlich macht. Nachdem wir in Alton übernachtet, fand uns die Mittagszeit des 19. Juni dem fraglos interessantesten Punkte der ganzen Reise gegenüber: der etwa achtzehn Meilen oberhalb St. Louis sich vollziehenden Mündung des Missouri, oder, richtiger gesagt, der Mündung des Mississippi in jenen.

Welch eine Mesalliance! Der stolze, grüngoldige Flußgott verbindet sich mit einer abscheulich schmutzigen Plebejerin. Im Grunde genommen freilich verbindet er sich nicht mit ihr, er wird heimtückisch von ihr überfallen. Wie ein Riese sträubt er sich gegen die Umarmung seiner mächtigen Gegnerin; wild brausend quirlen die verschiedenfarbigen Fluthen durch einander, hier wirbelt noch eine krystallklare Mississippiwelle empor, als strebe sie, Licht und Freiheit wieder zu gewinnen, aber schon im nächsten Augenblicke wird sie verschlungen von jener gelblich dicken, undurchsichtigen und ekelerregenden Lehmfluth des Missouri, welche der Amerikaner mit dem treffenden Namen „big muddy“ („dicker Schlamm“) getauft hat. So wird nach kurzem, aber heftigem Kampfe der edle Vater der Ströme schmählich überwunden.

Die Bezeichnung der nunmehr vereinten Wassermassen beider Ströme mit dem Gesammtnamen „Mississippi“ ist unstreitig ein geographischer Fehler. Der Charakter des schönen Stromes, der bis hierher so genannt wurde, ist wie mit einem Schlage verschwunden; er ist untergegangen in den Wellen des Missouri, der von nun an der ungeheuern, nach Süden strömenden Wasserfläche wie auch den Uferlandschaften sein eigenartiges Gepräge verleiht. Also: der Mississippi mündet in den Missouri. Nicht allein, daß der Lauf des letzteren um einige hundert Meilen länger ist, sondern er führt auch eine bei weitem größere Wassermasse herzu und ist demnach als der Hauptquellarm des ganzen Stromgebietes zu betrachten.

Wir schwimmen nicht mehr auf der Welle des gemessenen, herrlichen, stolzen Mississippi; wir schießen dahin auf einer wüthenden, kochenden Strömung, auf trüben und reißenden Fluthen, angefüllt mit unaufhörlich wechselnden Schlammbänken, umgrenzt von zerrissenen Ufern, deren unternagte und zerwühlte Erdmassen fortwährend dumpfen Falles in den wild wirbelnden Strom hinabstürzen.

Ohne Zweifel hat die hier gerügte geographische Unrichtigkeit ihren Ursprung in dem Umstande, daß man den Missouri weit später entdeckte, als den oberen, mittleren und unteren Lauf des Mississippi. Wäre das ungeheure Stromsystem des Missouri früher bekannt geworden, man hätte sicherlich letzteren als Hauptfluß betrachtet und dem gemäß seinem Namen die Ehre des Vortritts gegönnt.

Von der mächtigen Strömung der vereinten Wasserläufe des Missouri und des Mississippi getragen, eilten wir nun in beschleunigtem Tempo der Metropole der mittleren Staaten der Union, St. Louis, entgegen. Unabsehbare Häuserlinien, von zahlreichen Thürmen überragt, tauchten endlich am Horizonte auf und nahmen immer deutlichere Umrisse an, und auch die mehr und mehr sich häufenden riesengroßen Ankündigungen von allerhand wohlthätigen Patentmedicinen und sonstigen Quacksalbereien verkündeten nach amerikanischer Weise die große Stadt.

Je mehr wir uns St. Louis näherten, desto rascher wuchs die Flotille von Fahrzeugen aller Art an, die Capitain Boyton und unserem im Schmucke aller denkbaren Flaggen prangenden Boote das Geleit gaben, desto dichter drängte sich die Menge, welche die Ufer belebte. Und als wir, eingeholt von zwei Dampfern, der gewaltigen Steinbrücke zusteuerten, welche, ein Wunderwerk modernen Geistes, hier in drei mächtigen Bogen den Strom überspannt – hilf Himmel, welche Menschenmassen! Schwarz überlagert waren Uferböschung, Brücke, Werfte, Dampfer und Häuser, und überall ein Hüteschwenken und Hurrahrufen, als sollte ein neuer Messias bewillkommnet werden. Unterdessen hatten wir unter fortwährenden Kanonenschlägen und Raketengeprassel die Riesenbrücke passirt und landeten, von der jauchzenden Menge fast erdrückt, am Fuße der Poplar-Straße, von wo wir uns nach dem Lindell-Hôtel begaben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_231.jpg&oldid=- (Version vom 12.1.2023)