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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

See zu kreuzen. Glücklicher Weise fügte es sich, daß ich von einem uns begegnenden Manne ein dauerhafteres, für unsere Zwecke durchaus geeignetes Boot einhandeln konnte, auf dem wir wohlbehalten über den See gelangten und gegen Mittag in Lake City eintrafen. Auch in diesem Städtchen concentrirte sich alsbald das gesammte Interesse der Einwohnerschaft auf Capitain Boyton, den kühnen Schwimmer. Jung und Alt wetteiferte, unsern Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Die jungen Damen des Ortes schmückten uns mit Blumen, und unser Mittagstisch wollte schier brechen unter der Last der uns dargebotenen vorzüglichen Speisen und Delicatessen.

Nur ein einziger wunder Punkt – und er stellte sich, dank unserem intensiven Durste, bald genug heraus – war schmerzlich zu beklagen. Kaum war nämlich das verhängnißvolle Wort „Bier“ unseren nichts Arges ahnenden Lippen entflohen, als plötzlich Alles scheu vor uns zurückwich. Ja, es war so: über dem Städtchen lag die Temperenzseuche, jene seltsame geistige Epidemie, die sich zum Entsetzen aller Deutschen mit reißender Schnelligkeit in den Vereinigten Staaten verbreitet, die nicht blos Dörfer, Städte und Landschaften, sondern ganze Staaten erfaßt und die, wie allen alkoholartigen Flüssigkeiten, so auch unserem verhältnißmäßig harmlosen deutschen Gerstensafte den Tod geschworen hat. Gleichwohl fand sich auch hier für unsere durstigen Kehlen insgeheim ein modus vivendi, den wir jedoch, in zarter Rücksicht auf die Betheiligten, den Lesern der „Gartenlaube“ nicht verrathen, sondern lieber im verschwiegenen Busen für uns behalten wollen.

Der nächstfolgende Morgen war insofern günstig, als uns der Wind im Rücken stand. Allein je mehr wir in den offenen See gelangten, desto schärfer wurde die Brise, desto unheimlicher die ganze Scenerie; die sich kräuselnden Wellen schlugen höher und höher; weißliche Kämme zeigten sich auf den tiefe und dunkle Thäler bildenden Fluthen, und bald war Alles nur noch ein weißschäumender, wild durch einander tosender Wasserschwall.

Etwa eine Stunde lang vermochten wir, das heißt unser Schwarzer und ich, uns noch in des Capitains Nähe zu halten, endlich aber erlahmten unsere Kräfte, und wir überließen unser Boot den Wogen. Binnen wenigen Minuten war Boyton außer Sicht; immer höhere Wasserberge wälzten sich, vom Sturme gepeitscht, heran, und Sturzwelle auf Sturzwelle überschüttete uns mit ihren Güssen. In dieser Noth sank mein Neger auf die Kniee und begann laut zu beten, zwischendurch mich anflehend, ich solle um Gotteswillen auf das Ufer zuhalten, um dort dem Wogenwirrsal zu entrinnen. Da dies jedoch einmal wegen des kolossalen Anpralles der Wellen an das zunächst liegende Ufer, sodann aber auch wegen der steilen und felsigen Beschaffenheit des Strandes der offenbare Wahnsinn gewesen wäre, so zog ich vor, unbeirrt den bisherigen Cours innezuhalten, um so bald wie möglich den Ausgang des Sees zu erreichen.

Hier war der Kampf und das Toben am ärgsten, Welle wälzte sich über Welle, und die ganze Wassermasse preßte und stürzte sich dem schmalen Ausgange entgegen, dem wir mit reißender Schnelligkeit zutrieben. Fast eine Stunde lang wurde unser Boot wie ein Spielball bald in die Höhe geschleudert, bald wieder in die Tiefe hinabgerissen; Wasserbäche von oben, von unten, von den Seiten flutheten über uns hinweg, schließlich aber war Alles glücklich vorüber, und tiefaufathmend schwammen wir wieder auf dem ruhigeren Fahrwasser des Stromes.

Unser neues Boot hatte die Feuer- oder vielmehr die Wasserprobe glänzend bestanden.

Nachdem wir mehrere Stunden gewartet, langte endlich auch Boyton an, und nun setzten wir nach kurzer Rast über die unterhalb Wabasha und Reads Landing gelegenen Stromschnellen. Erst gegen Abend, als wir uns Fountain City näherten, klärte sich der Himmel allmählich wieder auf; die malerisch schönen Stirnen senkrecht abfallender Felsen erglühten in den Strahlen der untergehenden Sonne und verliehen der Landschaft einen eigenthümlich anheimelnden, an die vaterländischen Ufer des Rheines oder der Mosel erinnernden Charakter. Und wirklich waren es auch vorwiegend deutsche Laute, die hier unser Ohr umtönten; ist doch die ganze freundliche Ansiedelung von Fountain City fast ausschließlich von deutschen Landsleuten bewohnt, mit denen wir den Rest des Abends gemütlich verplauderten.

Nachdem wir auf die ausgestandenen Strapazen prächtig geruht, sah uns das nächste Morgengrauen schon wieder unterwegs. Winona, nach irgend einer schönen Indianerjungfrau benannt, mit seiner mächtigen Eisenbahnbrücke kam bald in Sicht, um ebenso bald wieder hinter uns zu verschwinden. Interessant waren für mich mehrere uns begegnende Canoes mit Winnebago-Indianern. Die Art und Weise, wie sie ihre leichten Fahrzeuge fortbewegten, war mir neu. Die ganze Gesellschaft knieete nämlich in den Booten, tauchte die Ruder einfach vor sich in’s Wasser und zog sie wieder zu sich heran. Im Bug des einen Canoes saß der „Chief“ in rothem Hemde, mit Perlen und Federn geschmückt. Uebrigens sah die ganze Bande ziemlich abgerissen aus und sperrte vor lauter Verwunderung ob unseres vorbeischwimmenden Fischmenschen die Mäuler bis an beide Ohren auf.

Im weiteren Verlaufe des Morgens passirten wir Trempealeau, einen Ort, der sich, anmuthig wie ein Moseldörfchen, gegen einen braungoldigen Sandsteinberg lehnte.

Der nun folgende Abschnitt des Stromes erwies sich angefüllt von den berüchtigten „snags“, das heißt, starken schwimmenden Baumstämmen, deren schwere Wurzeln sich im Moraste des Strombettes festgesetzt und verfangen haben, während der Stamm selbst, mit seinen nackten Aesten einer vielzackigen Lanze gleich, der Stromrichtung folgt und wie eine Palissade im Wasser steht. Während bei niedrigem Wasserstande das düstere Haupt des snag sich nickend aus den Fluthen hebt, verräth bei Hochwasser nichts als ein kaum bemerklicher Wirbel das Dasein dieses Todfeindes aller Dampfer, welche demselben besonders häufig bei der Fahrt zu Berge zum Opfer fallen. Tausende von Schiffen haben sich schon an diesen snags den Leib eingerannt und sind spurlos gesunken, weshalb die Beseitigung dieser submarinen Schiffszerstörer bei der Masse von Treibholz, welches der Mississippi mit sich führt, eine ebenso kostspielige wie vorläufig noch immer ungelöste Aufgabe der amerikanischen Regierung bildet.

In den nächstfolgenden Tagen führte die Reise ohne besonders bemerkenswerthe Zwischenfälle über la Crosse, Brownsville, das prachtvoll gelegene, dem Entdecker des Mississippi zu Ehren benannte De Soto und Lansing (woselbst der deutsche Musikverein uns in den Abendstunden mit einem solennen Ständchen überraschte) nach Mac Gregor, einem zwar hübsch gelegenen, aber in Folge ungünstiger Conjuncturen dem Verfall entgegengehenden Orte, bei dem die schier endlose Pontonbrücke der Chicago-Milwaukee-St. Paul-Eisenbahn den Strom überschreitet.

Ein von Mac Gregor aus unternommener Ausflug nach den zwei bis drei Meilen unterhalb des Städtchens gelegenen „Pictured Rocks“ gewährte mir einen der großartigsten Eindrücke der ganzen Reise. Auf der Spitze der Felsen angelangt, erblickte ich fünfhundert Fuß tief unter mir den Mississippi, der, viele Hunderte von waldgrünen Inseln in seine Stromarme schließend, in stiller Majestät dahinzog; ein Riesenpanorama, umsäumt von abgeplatteten Felsenhöhen, deren unabsehbare, noch von keiner Menschenhand berührte Urwälder in voller, ursprünglicher Schönheit prangten. Erst hier vermochte ich den König der Ströme in seiner ganzen Pracht, in seiner Unermeßlichkeit zu erfassen. Dreißig, vierzig Meilen weit schweifte der trunkene Blick über dieses fließende Meer, über diese ungezählten, herrlichen Eilande dahin. Im Mittelpunkte des Bildes schimmerten die verstreuten Häusergruppen von Prairie de Chien; dort drüben lugte das äußerste Ende von Mac Gregor hinter einem Berghange hervor, während zur Rechten der aus blauer Ferne kommende Wisconsin River seine silbernen Fluthen in gewundenem Laufe längs dichtbewaldeter Hügelketten dem Vater der Ströme entgegenführte – ein Gesammtbild, das auch nur annähernd wiederzugeben dem Griffel keines Sterblichen beschieden ist.

Auf unserer Weiterfahrt berührten wir unter andern Orten auch Clinton, wo die Scenerie des Flusses insofern eine wesentliche Veränderung erfährt, als die die Ufer begrenzenden, steil abfallenden Felsmassen jetzt mehr und mehr verschwinden und leicht hingleitende Höhenzüge an ihre Stelle treten.

Am 13. Juni, Nachmittags, erreichten wir Burlington, vom deutschen Ruderclub der Stadt festlich begrüßt. Während der Fahrt dahin bemerkten wir viele Hunderte von Schildkröten, die sich auf den aus dem Wasser ragenden Baumstämmen sonnten, beim geringsten Geräusch unserer Annäherung aber sofort in der Tiefe verschwanden. Weniger eilig hatten es die grünlich-braunen Wasserschlangen, die, um dürre Zweige geringelt, nur dann den scheußlichen, dreieckigen Kopf emporhoben, wenn ein Frosch oder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_230.jpg&oldid=- (Version vom 12.1.2023)