Seite:Die Gartenlaube (1882) 224.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


keine Tochter, aber der Mutter Sehnen, Denken und Vorstellen hatten eine halbe Tochter aus mir gemacht, eine weibliche Natur. Gott verzeih’s ihr! Nannte sie mich nicht, wenn sie mir zärtlich durch die Locken fuhr, meine mißrathene Tochter? Sagt nicht auch Klingholt, daß bei mir das körperliche Leben von dem geistigen bestimmt wird – ganz wie beim Weibe? Und meine unselige Höflichkeit des Herzens, in einer Welt, die viel zu egoistisch ist, um sie zu erwidern, viel zu brutal und stupide, um sie zu begreifen! Und der unselige Trieb, mich in Anderer Stelle zu denken, ihre Anschauung zu verstehen, ihr Gefühl mitzuempfinden, tolerant gegen alle Welt zu sein! Tolerant, wenn auch dabei mein eigenes Recht in die Brüche geht! Ist das nicht alles weibliche Natur, Weiblichkeit, Weibischheit?“

Der alte Herr warf sich mit einem tiefen Seufzer in seinen Sessel.

„Gott besser’s!“ sagte er dabei. „Trinken wir also einmal wieder Wein! Vielleicht thut der’s. Dieser Klingholt sollte mir immer zur Seite bleiben – immer – immer – an des Sohnes Statt, den das Schicksal mir nicht gegönnt hat. – Was ist aus dem wilden, unlenksamen Försterjungen, der nie wußte, wo seine Bücher waren, der nie ein erträgliches Schulzeugniß aus der Stadt heim brachte, geworden? – trotz seiner Jugend der geschickteste, gesuchteste Arzt in der Stadt, der kühnste und glücklichste Operateur – und in Allem, was er angreift, ein Mann – ein ganzer Mann!“

Der alte Herr stützte, solchen Gedanken folgend, sein schmales zurücktretendes Kinn in die Hand; so blickte er lange schwermüthig in die erlöschenden Kohlen seines Kamins, bis sich die Thür wieder öffnete und Leonhard eintrat, von Andreas, der eine Flasche und Gläser trug, gefolgt.

„Es sieht da unten nicht glänzend mehr, aber doch auch nicht zum Verzweifeln aus,“ sagte er lachend. „Für Sect ist für einige Tage gesorgt, und hier ist Château d’Yquem, von dem Sie ein Spitzglas leeren sollen.“

Andreas füllte die Gläser.

Leonhard stieß mit dem alten Herrn an; dieser trank mit augenscheinlichem Behagen, und sagte dann mit einem heitern Aufleuchten seines schönen dunklen Auges:

„Ich glaube, dieser Heilgehülfe wird jedenfalls seine Schuldigkeit thun, Klingholt.“

„Ich bin davon überzeugt,“ entgegnete lächelnd Leonhard; „jetzt aber bitte ich mir durch Andreas ein Zimmer anweisen zu wollen, wo ich mich installiren und für einen oder zwei Tage aufhalten kann, so lange es nöthig ist, daß ich in Ihrer Nähe bleibe!“

„Ah,“ rief der Baron erfreut, „Klingholt, Sie wollen, Sie können mir einige Tage opfern? Sie wissen nicht, wie glücklich Sie mich dadurch machen, wie dankbar.“

„Dankbar? Was schulden wir nicht Ihnen, Baron, wir, die wir den Namen Klingholt tragen – meine Zeit, meine Kräfte, wem konnten sie vor allen Andern zuerst gehören, als Ihnen? Ich habe meine Kranken in der Stadt einem Freunde anvertraut, der meinen Assistenten macht.“

„Vortrefflich!“ sagte der Baron; „ich hätte nie gewagt, Ihnen so viel zuzumuthen. Also,“ fügte er, ihm die Hand reichend, hinzu, „bis zur Mahlzeit!“ – –

Zu dieser Mahlzeit wurde ein paar Stunden später Leonhard durch einen andern Diener, einen verdrossen aussehenden Menschen gerufen, der ihn schweigend in das Erdgeschoß führte, in den Speisesaal, der unter dem Wohnzimmer des alten Herrn lag. In dem Augenblick, wo er eintrat, kam durch eine entgegengesetzte Thür, auf Andreas’ Arm gestützt, der Baron herein. Er hatte den Sammetschlafrock mit einem Rock aus schwarzer, gesteppter Seide vertauscht. Jetzt auf die Lehne seines Sessels gestützt, stellte er Leonhard der versammelten Tischgesellschaft vor:

„Herr Doctor Klingholt – mein lieber Doctor Leonhard Klingholt,“ sagte er, und dann setzte er sich und überließ es Leonhard, Namen, Geltung und Bedeutung der Anwesenden in diesem Kreise für sich selber zu ermitteln. Für’s erste hielt Leonhard das Auge auf ihn gerichtet und beobachtete, wie er sich mühsam und mit vielen Weitläufigkeiten zu einem bequemen Sitzen in seinem Sessel brachte, den Andreas an die Tafel schob, wie viele Hände ihm dabei behülflich zu werden suchten, wie die eine – die fleischige Hand einer dicken kleinen Dame – ihm den Zipfel der Serviette in eines der obern Knopflöcher seines Rockes steckte, worauf der alte Herr mit einer Miene des Aergers die Serviette wieder losriß und auf seine Kniee warf, wie eine andere Hand – die schmale rosenrothe eines neben ihm niederknieenden jungen Mädchens – ihm ein gesticktes Kissen unter die Füße schob, was nur den Effect hatte, daß der Baron das Kissen mit dem Fuße wieder von sich schob, während er mit einem süß-sauren Lächeln und gefurchter Stirn ein Mal über das andere ein leises: „Danke, danke!“ – sagte.

Leonhard faßte die dicke Dame und das junge Mädchen in’s Auge, die nicht den Tact besaßen, zu fühlen, bis wie weit Hülfeleistungen bei alten Leuten gehen dürfen, wenn sie dieselben nicht kränken sollen, indem sie mehr Hinfälligkeit und Schwäche voraussetzen, als da ist. Der Baron hatte ihn mit einem Wink gebeten, an seiner rechten Seite Platz zu nehmen.

Die Dame setzte sich Leonhard zur Linken – sie hatte ein rundes rothblühendes Gesicht mit vollen Wangen, die sich zu Hängebacken zu entwickeln drohten, und einen ziemlich großen Mund mit beneidenswerth schönen wohlconservirten Zähnen; sie blickte aus ihren runden, vorliegenden blauen Augen wie die gute Zeit. Das junge Mädchen, welches sich neben sie setzte, mußte ihre Tochter sein; sie hatte zwar nichts von der Mutter wohlgenährter Leibesfülle, sondern war schlank und zeigte kindlich anmuthige Bewegungen, aber sie hatte die Augen der Mutter, deren heiteren Blick und dazu noch etwas Kluges, Satirisches, das von Zeit zu Zeit daraus aufblitzte und ihrem sehr hübschen Gesicht einen Reiz mehr gab.

Zur andern Seite des alten Herrn setzte sich eine in schwarze, ein wenig abgetragene Seide gekleidete, mit großem Würdebewußtsein sich niederlassende magere, starkknochige Dame mit einer langen spitzen Nase, einem Gebiß, welches mit unheimlicher Deutlichkeit seinen künstlichen Ursprung verrieth, und mit einem übergroßen Kreuz von Jet an dicken Jetperlen auf der Brust.

Leonhard hatte nun nur noch die beiden Jünglinge, von denen der eine neben dem jungen Mädchen, der andere neben der stolzen schwarzen Dame Platz nahm, zu recognosciren, nur noch einen Augenblick auf den Dialekt zu horchen, in welchem die Gesellschaft die ersten Worte wechselte, und er war über die Herrschaften an der Tafelrunde, welcher sich nur noch der Rentmeister Benning und ganz zu unterst eine die Wirthschaft leitende ältliche Dame zugesellt hatten, im Reinen. Die dicke Dame war offenbar die aus Süddeutschland gekommene Frau von Ramsfeld, die Wittwe eines „verkauften“ Gutsbesitzers aus Frankenland, das junge Mädchen ihre Tochter Dora, und der wunderliche junge Mensch von einigen zwanzig Jahren, der neben der mageren schwarzen Dame saß, der so hohläugig aus den Augen schaute und einen so hohlwangigen Kopf hatte, mußte ihr hoffnungsvoller Sohn Damian sein.

Die schwarze Dame aber, die lange, magere, war die Frau Generalin von Sander aus einem Städtchen Pommerns, wohin sich ihr als Obrist mit dem Generalscharakter pensionirter Gatte zurückgezogen hatte. Ihr der Mutter wenig ähnlich sehender Sohn, Sergius, hatte sich auf die süddeutsche Seite geschlagen – der wohlgenährte, hochgewachsene und mit eigenthümlich gespannten Mienen lebhaft um sich blickende junge Mann saß neben dem hübschen jungen Mädchen aus dem Frankenlande.

(Fortsetzung folgt.)




Berthold Auerbach.
Eine Erinnerung.

… Gottlob! noch nicht so ganz, wie Manche glauben, ist dem deutschen Volke der Maßstab für die wahre Bedeutung seiner Dichter abhanden gekommen, und eine Fabel, zum Hausgebrauch der Reaction erfunden, ist die Geschichte von unserem Materialismus und unserer nationalen Verwilderung. Ein Volk, das seine Dichter ehrt, ist der Gefahr, seiner idealen Charakterzüge verlustig zu gehen, niemals ausgesetzt, und der Ausdruck tiefen Schmerzes, welcher bei der Kunde von Berthold Auerbach’s Tode in ganz Deutschland zu Tage kam, hat dargethan, daß in der Seele der deutschen Nation trotz „Blut und Eisen“ die hohen geistigen Regungen,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_224.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)