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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

einige „maledettos“ („verflucht!“) – und der Sieger, der den schmutzigen Cigarrenstummel errungen hat, erhebt sich mit virtuoser Grandezza, lehnt sich großartig faul an die nächste Wand oder Laterne, den zerfetzten Stummel im Mundwinkel und mit überlegener Blasirtheit das Menschengewühl überschauend –: Guter Gott! wie so nichtig verschwinden doch all die Sorgen des Lebens, wie eitel und kleinlich erscheinen all die Leidenschaften der Welt, wenn man so Abends behaglich seine Cigarre raucht – und sei’s auch nur „kalt“!

Aber wo übernachtet denn diese Bande? O, Nachtlager giebt es in der heiligen Stadt genug! Daran hat ja Rom einen wahren Luxus! Wozu wären denn sonst überhaupt alle die Säulenhallen, die Kirchenportale, die Nischen an jeder Capellenmauer? Hinter den marmornen Beinen der Heiligenbilder, die in jeder Nische paradiren, schläft sich’s trefflich, und besonders bequem hat man’s auf der rundlich gefalteten Schleppe der unzähligen Madonnenstatuen; des heiligen Petrus opulenter Mantel deckt brillant vor dem widerwärtigen Mondschein, und der heilige Sebastian ladet förmlich ein, hinter ihm sich zu Schlaf zu legen. Wozu auch wäre denn die Basilika des Constantin mit ihren vortheilhaften Tonnengewölben über jedem der kolossalen drei Bogen, wozu die schön gerundeten Thore und gar die Triumphbogen, wenn nicht die Straßenjungen des modernen Rom darunter ihr Nachtquartier suchten? Auch das Colosseum mit seinen achtzig Portalbogen wäre eine schätzenswerthe Nachtherberge. Allein hier ist der Umstand etwas störend, daß in einem der Portale die Polizei ein Sicherheitswachlocal eingerichtet hat, und vor der Polizei hat der hoffnungsvolle Gassenbengel stets eine gewisse unbestimmte Scheu; auch ist es unangenehm, daß häufig von sentimentalen Reisegesellschaften im Colosseum Nachts bengalische Beleuchtungen arrangirt oder gar beim Mondschein Concerte gegeben werden: nein, solche Abgeschmacktheiten und Schlafstörungen liebt der junge Römer nicht. Lieber noch legt er sich auf das bloße Pflaster oder auf eine breite Hausschwelle, und wenn wir endlich gegen Mitternacht, müde vom vielen Sehen, nach Hause schlendern, stolpern wir wohl noch unter der Hausthür über ein Paar kurzer, nackter Beinchen, deren schlaftrunkener Eigenthümer, ohne sich aufzurichten, nur noch mechanisch die Hand ausstreckt: „un’ soldo, Signore!“

Und so lebt Tag für Tag die römische Straßenjugend, jedes Einzelexemplar ein drolliges Gemisch von Gutmüthigkeit und Teufelei, Naivetät und Gaunerei. Im beständigen Kampfe um’s Dasein wachsen sie auf und werden groß auf der Straße; sie ist ihre Heimath und ihre Schule zugleich. Geradezu neiderweckend ist die grenzenlose Leichtlebigkeit, mit der so ein römischer Gassenjunge durch’s Leben schlendert; er kennt keine Sorge als die um das unmittelbar Nöthige, keinen Kummer als den, daß augenblicklich keine Cigarre zu haben ist. So wächst er allmählich zum jungen Manne heran, ausgestattet mit aller Lebensklugheit und Gewandtheit. Geradezu zu Allem ist er brauchbar, nur nicht zum Stillsitzen. Vorzügliche Diener, die findigsten Soldaten, die anspruchslosesten Arbeiter erwachsen aus diesen Straßenjungen Roms – freilich auch – Taugenichtse und Verbrecher.

Jedenfalls sind diese kleinen Teufel eine interessante, lebensvolle Staffage des ewigen Rom – wenn nicht um ihrer selbst willen interessant, so doch gewiß als Contrast, gegenüber der Würde und Größe, welche sie rings umgiebt, gegenüber dem classischen Boden, auf dem sie wandeln.

R. Eifert.     




Ketten und Verkettungen.

Novellette von B. Oulet.
(Fortsetzung.)


Nicht wahr, der Stoff, den ich zu behandeln habe, ist gigantisch? – Urtheilen Sie selbst: die Kette aller Ereignisse, also Geschichte; die Kette der Berge, Länder und Meere, also Erdbeschreibung; dazu noch die Kette der Sterne und Sonnen, nämlich Astronomie! – Endlich: die Verkettung der Herzen, also – Liebe!

Ich werde das Werk in Bände eintheilen müssen, die Bände in Bücher, die Bücher in Abschnitte, die Abschnitte in Capitel und die Capitel in Paragraphen. – Nur planmäßig vorgehen! Und nur immer die erste Idee festhalten, sodaß die folgenden eine aus der anderen hervorgehen und jeder Satz sich an den vorigen zu lehnen scheint! Es wäre doch traurig, wenn ein Werk, welches von der Verkettung aller Dinge handelt, nicht selbst eine ununterbrochene Folge von Gedankengliedern aufwiese.

Sie ist vielleicht verheirathet – und unglücklich verheirathet? Oder ist sie eine von Bartolo bewachte Rosine? – Wie werde ich ihr schreiben? Ungefähr so:

„Sie haben mir die Aufgabe, Ihnen zu antworten, sehr erschwert, meine interessante Correspondentin; denn Sie wollen aus meinem Briefe ersehen, ob ich eine Seele habe.

Du lieber Gott! Dieses unfaßbare Ding, über dessen wirkliches Bestehen seit Plato bis heute so viel disputirt und argumentirt wurde, ohne daß dafür ein endgültiger Beweis aufgestellt worden, Sie wollen dieses unfaßbare Ding zwischen den Zeilen eines poste-restante-Briefes flattern sehen? –

Uebrigens weiß ich ganz gut, was Sie meinen. Ich kann mir denken, wie man Ihrem in dichte Schleier gehüllten, feinen Seelchen mit aller möglichen Zartheit nahen muß, wenn es nicht gleich davon fliegen soll.

Schade, daß ich kein Dichter bin! Vielleicht würde es mir dann gelingen, das leise Zittern in Worte zu kleiden, in welches meine Seele durch den Hauch des Geistes versetzt wurde, der aus Ihren Zeilen weht – und damit wäre auch die Thatsache meines Seelenbesitzes festgestellt. Aber ich bin kein Poet – und so müssen Sie meiner einfachen Versicherung Glauben schenken, daß ich Ihr Vertrauen verdiene, holde Unbekannte. Mein Wort als Gentleman darauf!

Vor allem – Ihre Maske ehrend – liegt mir daran, mich Ihnen mit aller Offenheit vorzustellen: mein Name ist Emil Baron Ritterglas, und ich lebe auf dem Gütchen Steineck, meinem Eigenthum. Damit ist Ihnen freigegeben, über meine Person, meinen Charakter und meine Verhältnisse alle näheren Details, die Sie etwa interessiren könnten, zu erforschen.

Ich weiß nicht – und Sie wissen es wahrscheinlich selbst nicht genau – was Sie auf den brieflichen Ausflug zu erleben wünschen. Sie folgen eben nur der Spur des Unbekannten und warten – auf das Unerwartete. Mein Fräulein, ich bin Ihnen die Erklärung schuldig, daß der Ausgangspunkt dieses brieflichen Abenteuers, meine Annonce, nicht in einer überlegten Absicht begründet ist, sondern als Ergebniß einer Ideenverbindung entstand und auf Eingebung des Moments in die Welt hinausgeschickt wurde. Das schließt nicht aus, daß ich, wie jeder andere Junggeselle an meiner Stelle, ein junges, schönes, geistvolles – und allenfalls auch reiches Mädchen mit größtem Vergnügen zu meiner Hausfrau machen würde. Das wird Ihnen sehr begreiflich erscheinen.

So viel zur Beleuchtung meines Inserats. Doch können wir, wenn Sie wollen, dasselbe ganz bei Seite lassen und als Ausgangspunkt unserer Correspondenz Ihr Schreiben betrachten, welches einen Weg betritt, der zu keinem bestimmten Ziele führt.

Sie sind nicht glücklich und nicht frei, sagen Sie. Ich weiß also nicht, welche Rolle mir zufallen wird: werde ich Sie glücklich machen und befreien – oder nur ein wenig trösten und zerstreuen sollen?

Ich meinerseits bin frei – soweit man es eben sein kann; denn ich bin der Ansicht, daß wir alle mehr oder minder Fesseln tragen, aber mich bindet keine Familie, kein Staatsdienst, kein Liebesband und ich kann somit, verehrte Correspondentin, meine Zeit, mein Herz oder – wenn es sein muß – mein Leben Ihrem Dienste weihen.

Mich nimmt zwar ein Gedanke ganz hin, nämlich die Composition eines umfangreichen Werkes –“

Da fällt mir ein, daß ich mich in meiner Arbeit unterbrochen habe. Ich verfüge aber jetzt nicht über die zur Wiederaufnahme derselben erforderliche Sammlung. Ich werde das obige Brief-Brouillon abschreiben und expediren, dann aber etwas spazieren reiten. O, ich habe einstweilen genug an der Schreiberei.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_182.jpg&oldid=- (Version vom 1.12.2022)